So weit wie möglich weg von hier. Hannah Miska. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hannah Miska
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783954624324
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– ich hatte sie angerufen, um einen Termin mit ihr auszumachen. Irma war, nach über 60 Jahren in der Emigration in Australien, unverkennbar eine Deutsche. Sie lud mich sofort zu einem Gespräch zu sich nach Hause ein, und als ich kam, standen frisch gebackene Plätzchen auf dem Tisch. „Die wollen meine Enkel immer essen“, erklärte sie und forderte mich auf, sie zu probieren. Später gab sie mir dann das Rezept.

      Irma im Holocaust Museum Melbourne, 2010

      Irma antwortete offen auf alle meine Fragen, oft wechselten wir vom Englischen ins Deutsche und wieder zurück.

      Es ist eine schwierige Biografie. Mit neun Jahren verlor Irmgard ihre Mutter, mit zwölf Jahren wurde sie aus dem Schlaf heraus verhaftet und nach Theresienstadt deportiert. Das Mädchen war zu jung, um zu begreifen, was vor sich ging, fand sie sich doch, unvorbereitet und unbeschützt von Erwachsenen, in einer Welt voller Angst, Entsetzen und Grausamkeit wieder. Als eines von wenigen Kindern hat Irma den Holocaust überlebt. Rein äußerlich hat sie ihr Leben gut gemeistert. Ihr Mann ist leider viel zu früh gestorben, aber sie lebt in einem schönen Haus, und die Söhne und Enkelkinder sind oft bei ihr. Wie es in Irmas Inneren aussieht, ist schwer zu sagen. Noch heute hat sie Schwierigkeiten, über ihre Mutter zu sprechen. „Wenn ich das einmal in der Woche vor Besuchern im Museum mache, dann reicht das“, sagt sie.

      Dann und wann backe ich die Plätzchen – ich habe sie Irma-Plätzchen genannt. Sie sind lecker und sehr schnell zu machen. Man nimmt 125 g Butter, 150 g Zucker, ein Päckchen Vanillezucker, ein Ei und ein Eigelb, 285 g Mehl, ein halbes Päckchen Backpulver und eine halbe Tasse gemahlene Nüsse, macht von allen Zutaten einen Teig, rollt ihn aus, formt Plätzchen und bäckt sie in 10 Minuten goldgelb – fertig.

       Irmas Geschichte

      Irmgard wird 1930 in Dresden in die alteingesessene deutsch-jüdische Familie Conradi hineingeboren. Der Vater stirbt früh, Irmgard ist das einzige Kind, und die Mutter Rosa arbeitet als Hausmädchen, um sich und die kleine Tochter durchzubringen. Die beiden wohnen in der Bautzner Straße – in einem Haus, das der Jüdischen Gemeinde gehört.

      Irma mit ihrer Mutter und Großmutter

      „Meinen Vater habe ich leider nie gekannt, und mein Großvater ist auch schon gestorben, bevor ich überhaupt geboren war. Er ist 1925 bei einem Autounfall verunglückt – stellen Sie sich das mal vor: ein Autounfall in dieser Zeit. Da gab’s ja noch gar nicht viele Autos! Er ist abends spät von der Arbeit nach Hause gekommen und wurde von einem betrunkenen Fahrer überfahren. Meine arme Großmutter musste dann ihre drei Kinder alleine großziehen. An meine Großmutter erinnere ich mich gut, obwohl ich erst fünf Jahre alt war, als sie starb. Ich habe immer noch ihre Kinderreime im Kopf, die sie mir erzählte oder vorsang, oder andere Weisheiten, die sie mir mit auf den Weg gab, zum Beispiel: ‚Geben ist seliger als nehmen.‘

      Meine Mutter und ich haben viel Zeit mit meiner Tante Lotti und meinem Onkel Max verbracht – das waren ihre beiden jüngeren Geschwister. Ich habe sie beide sehr gemocht.“

      Hochzeitsfoto von Lotte Conradi und Walter Hempel, Dresden 1933

      1933, im gleichen Jahr, in dem Hitler an die Macht kommt, heiratet Irmgards Tante Lotte den Nichtjuden Walter Hempel – ein Umstand, der für Irmgard bald lebenswichtig werden soll. Hempels Mutter ist nicht sonderlich glücklich über die Verbindung ihres Sohnes mit einer Jüdin. Ihr zweiter Sohn macht es besser: Er tritt in die SS ein.

      „Walter Hempel wurde später zu meiner Rettungsleine, weil er eben nicht jüdisch war und zu meiner Tante und zu mir hielt. Onkel Walter war Musiker – er spielte die Posaune in einem Tanzorchester. Er reiste viel mit dem Orchester, und meine Tante reiste mit ihm. Tante Lotti war ein Modemodell, sie war sehr hübsch und auch intelligent, und beide lebten in einem tollen Apartment. Für mich waren sie immer richtige Leute von Welt.“

      Die Jüdische Gemeinde Dresden hat zu dieser Zeit etwa 4.700 Mitglieder. Die Conradis gehen zuweilen in die Synagoge und feiern die jüdischen Feiertage, aber sie sind assimilierte deutsche Juden.

      „Ich erinnere mich, dass ich in den deutschen Kindergarten ging und auch mit den Nachbarskindern spielte, die nicht jüdisch waren. Später dann ging ich in die jüdische Schule. An meinem ersten Schultag bekam ich eine Zuckertüte: eine große bunte Tüte aus Pappe, gefüllt mit Süßigkeiten und Schokolade. Ist das heute immer noch ein Brauch in Deutschland – eine Zuckertüte am ersten Schultag? Na ja, das war schön, aber leider hat mir die Tüte kein Glück gebracht, denn alles in allem habe ich nur vier Jahre Schule in meinem ganzen Leben gehabt, mehr nicht.“

      Irmgard geht deshalb in die jüdische Schule, weil es 1937 schon extrem schwierig war, als jüdisches Kind in einer staatlichen deutschen Schule eingeschult zu werden. Im November 1938 werden alle jüdischen Schüler, die zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch staatliche Schulen besuchen, von den Schulen gewiesen. Die Reichsvereinigung der Juden ist von nun an für die Schulbildung aller jüdischen Kinder und Jugendlichen zuständig. Irmgards Schule befindet sich direkt neben der Dresdner Synagoge – ein Bauwerk, das nach den Plänen des berühmten Architekten Gottfried Semper gebaut und 1840 eröffnet worden war.

      Während Irmgard eingeschult wird, läuft die Judenverfolgung im Deutschen Reich auf Hochtouren. Nach und nach wird den Juden die Lebensgrundlage entzogen. Die Nationalsozialisten versuchen alles, um sie zum Auswandern zu bewegen. Zwischen 1933 und 1937 emigrieren etwa 130.000 deutsche Juden. Im Oktober 1938 nimmt die Polizei 17.000 im Deutschen Reich lebende polnische Juden fest, transportiert sie an die polnische Grenze und treibt sie mit Hilfe von SS und Gestapo über die Grenze.

      „Ich hatte eine ganze Menge Mitschüler in meiner Klasse, die polnischer Abstammung waren. Die waren plötzlich alle weg. Aber auch die anderen in meiner Klasse – fast jeden Tag fehlten Schüler, wir wurden immer weniger, das war gespenstisch. Mich hat das sehr beschäftigt und auch verängstigt, ich konnte mich gar nicht mehr konzentrieren in der Schule. Ich erinnere mich, dass ich das Wort ‚Gestapo‘ aufschnappte und meinen Lehrer fragte, was das heißt.“

      Am 9. November orchestrieren die Nazis ein gewalttätiges Pogrom gegen die Juden im gesamten Deutschen Reich und in Österreich. Auch in Dresden klirren Fensterscheiben, Geschäfte werden verwüstet, jüdische Bürger tätlich angegriffen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November werden unter anderem die Synagoge und zwei Kaufhäuser in Brand gesteckt.

      „Die wunderschöne Synagoge ist komplett abgebrannt – die Feuerwehr hatte ausdrücklichen Befehl, das Feuer nicht zu löschen. Meine Schule, die ja gleich neben der Synagoge war, ist bei der Gelegenheit natürlich auch schwer beschädigt worden. Es hat fünf oder sechs Monate gedauert, bis sie repariert war und wir wieder in die Schule gehen konnten – bis dahin war die Schule geschlossen.“

      Am 12. November werden die rauchenden Ruinen der Synagoge gesprengt. Der Oberbürgermeister von Dresden verkündet, dass damit „das Symbol des Erzfeindes endgültig vernichtet“ worden sei. „Da war dann nur noch ein Berg von Schutt und Geröll neben der Schule, der uns an die Synagoge erinnerte.“

      Während der Novemberpogrome werden 151 jüdische Bürger Dresdens verhaftet, darunter der gesamte jüdische Gemeindevorstand. Die meisten Opfer werden in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar verbracht, einige in das KZ Sachsenhausen bei Berlin.

      „Meinen Onkel Max haben sie auch festgenommen – sie haben die Wohnung nach angeblichen Waffen durchsucht und völlig verwüstet und ihn dann mitgenommen. Unter der Bedingung, Deutschland zu verlassen, wurde er dann nach einiger Zeit freigelassen.“

      Der Auflage, das Deutsche Reich zu verlassen, ist unterdessen nicht mehr leicht nachzukommen, die deutschen Behörden machen es zunehmend schwerer: Die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“ ist extrem hoch, Wertpapiere und Bankvermögen können nur gegen hohe Abschläge ins Ausland transferiert,