„Ich weiß nicht wie, aber Onkel Max ist von einer jüdischen Organisation nach England geschmuggelt worden. Dort hat er dann sechs Jahre in der britischen Armee gedient. Nach dem Krieg ist er nach Australien ausgewandert.“
Irmgard verliert nun auch eine ihrer besten Freundinnen.
„Irgendwann in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre verließ meine Freundin Lydia Dresden. Die Familie emigrierte nach Argentinien. Niemand verstand das damals – ein Land, das so weit weg war. Ich war sehr traurig. Aber irgendwann haben wir dann natürlich begriffen, dass Lydias Familie die richtige Entscheidung getroffen hatte.“
Während die Freundin im fernen Argentinien in Sicherheit ist, sieht Irmgards Zukunft düster aus. Ab Juli 1938 werden alle jüdischen Läden in Dresden kenntlich gemacht – sie müssen von nun an ein Schild „Jüdisches Geschäft“ im Schaufenster haben. Das Königsufer, die Elbuferzone in der Mitte der Stadt, darf von den jüdischen Bürgern Dresdens nicht mehr betreten werden, ebenso wenig wie andere Parks der Stadt. Der Oberbürgermeister von Dresden kündigt allen Juden, die in städtischen Wohnungen wohnen, den Mietvertrag. Private Hausbesitzer folgen dem Beispiel des Oberbürgermeisters. Dresdens Juden werden obdachlos, und erst nachdem die Reichsvertretung der Juden protestiert, werden sogenannte „Judenhäuser“ eingerichtet. Im November 1939 existieren 37 Judenhäuser in Dresden – die lokalen Nazi-Größen in Sachsen beginnen viel eher mit der „Entmietung“ ihrer jüdischen Mitbürger als die Nazis in anderen Städten des Deutschen Reiches.
Der in Dresden lebende Literaturwissenschaftler und Chronist Victor Klemperer listet im Juni 1942 in seinem Tagebuch die immer neuen, zermürbenden Schikanen gegen die Juden auf: „1) Nach acht oder neun Uhr abends zu Hause sein. Kontrolle! 2) Aus dem eigenen Haus vertrieben. 3) Radioverbot, Telefonverbot. 4) Theater-, Kino-, Konzert-, Museumsverbot. 5) Verbot, Zeitschriften zu abonnieren oder zu kaufen. 6) Verbot zu fahren; (dreiphasig: a) Autobusse verboten, nur Vorderperron oder Tram erlaubt, b) alles Fahren verboten, außer zur Arbeit, c) auch zur Arbeit zu Fuß, sofern man nicht 7 km entfernt wohnt oder krank ist […] 7) Verbot, „Mangelware“ zu kaufen. 8) Verbot, Zigarren zu kaufen oder irgendwelche Rauchstoffe. 9) Verbot, Blumen zu kaufen. 10) Entziehung der Milchkarte. 11) Verbot, zum Barbier zu gehen … 12) Jede Art Handwerker nur nach Antrag bei der Gemeinde bestellbar. 13) Zwangsablieferung von Schreibmaschinen, 14) von Pelzen und Wolldecken, 15) von Fahrrädern […] 16) von Liegestühlen […] 17) von Hunden, Katzen, Vögeln. 18) Verbot, die Bannmeile Dresdens zu verlassen, 19) den Bahnhof zu betreten, 20) das Ministeriumsufer, die Parks zu betreten, 21) die Bürgerwiese zu betreten und die Randstraßen des Großen Gartens […] zu benutzen […] Auch das Betreten der Markthallen seit vorgestern verboten. 22) Seit dem 19. September der Judenstern. 23) Verbot, Vorräte an Essen im Hause zu haben (Gestapo nimmt auch mit, was auf Marken gekauft ist.) 24) Verbot der Leihbibliotheken. 25) Durch den Stern sind uns alle Restaurants verschlossen. Und in den Restaurants bekommt man immer noch etwas zu essen […], wenn man zu Haus gar nichts mehr hat. […] 26) Keine Kleiderkarte. 27) Keine Fischkarte. 28) Keine Sonderzuteilung wie Kaffee, Schokolade, Obst, Kondensmilch. 29) Die Sondersteuern. 30) Die ständig verengte Freigrenze. Meine zuerst 600, dann 320, jetzt 185 Mark. 31) Einkaufsbeschränkung auf eine Stunde (drei bis vier, Sonnabend zwölf bis eins).“
Klemperer merkt an: „Ich glaube, diese 31 Punkte sind alles. Sie sind aber alle zusammen gar nichts gegen die ständige Gefahr der Haussuchung, der Misshandlung, des Gefängnisses, Konzentrationslagers und gewaltsamen Todes.“
Im November 1939 wird Irmgards Mutter Rosa verhaftet.
„Ich kam wie immer von der Schule nach Hause, und meine Mutter war nicht da. Ich spielte also mit den Nachbarskindern, aber Stunde um Stunde verging, und meine Mutter kam immer noch nicht. Nach zwei Tagen kam dann meine Tante Lotti – ich weiß nicht, ob die Nachbarn sie informiert haben oder wieso sie kam.“
Das Gespräch stockt, Irmgard kann sich an keinerlei Einzelheiten erinnern – wie sie die zwei Tage verbrachte, wie die Zeit herumging. Das Einzige, woran sie sich erinnert und was sie heute noch fühlt, ist diese unsägliche Traurigkeit.
„Meine Tante hat mir erzählt, dass sie mich in einer Küchenecke sitzend gefunden hat. Dort saß ich und weinte. Nicht mal daran kann ich mich erinnern. Ich muss meine Gefühle wohl völlig betäubt haben. Ich weiß nur noch, dass ich mich elend verlassen fühlte – verlassen von meiner Mutter. Warum bloß hatte meine Mutter mich verlassen?“
Lotte Hempel nimmt ihre Nichte mit zu sich nach Hause und wendet sich aufgebracht an die Dresdner Staatspolizeidienststelle.
„Meine Tante ist gleich zur Gestapo gegangen, um herauszufinden, was mit meiner Mutter passiert ist. Sie hat natürlich nichts erreicht und nur erfahren, dass meine Mutter verhaftet worden sei.“
Walter Hempel, der inzwischen zur Wehrmacht gezogen wurde, wird aufgefordert, sich von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen. Als er nicht Folge leistet, wird er aus der Wehrmacht entlassen und zu Zwangsarbeit verpflichtet.
„Auch meine Tante wurde zur Zwangsarbeit herangezogen. Sie haben beide bei Zeiss Ikon gearbeitet, das war eine bedeutende Kamerafirma, die in ein Rüstungsunternehmen umfunktioniert worden war und nun Zeitzünder und Bombenzielanlagen produzierte. Als Nächstes wurden mein Onkel und meine Tante dann aus ihrer Wohnung geschmissen, sie mussten in eine sehr arme Gegend Dresdens ziehen, die Wohnung lag über einer Konservenfabrik. Diese Fabrik beschäftigte eine Menge Zwangsarbeiter aus Polen, Russland, der Ukraine und aus Litauen. Jeden Abend um sieben klopfte es an der Tür – das war die Gestapo, die kontrollierten, ob Tante Lotti und Onkel Walter zu Hause waren.“
Die vermutlich demütigendste antijüdische Verordnung wird am 1. September 1941 erlassen – die Polizeiverordnung zum Tragen eines Judensterns. Mit Wirkung vom 19. September müssen alle Juden des Großdeutschen Reiches und des Protektorats Böhmen und Mähren, die das sechste Lebensjahr vollendet haben, einen Judenstern tragen. In der Mitte des handtellergroßen gelben sechszackigen Sterns steht – in einer seltsam gebogenen Schrift, die hebräisch anmuten soll – das Wort „Jude“. Der Stern muss bei der jeweiligen Gemeinde gegen die Zahlung von zehn Pfennig und gegen Unterschrift einer Quittung abgeholt und auf die linke Brustseite der äußeren Kleidung aufgenäht werden.
„Ich habe den Stern gehasst. Auf meinem Weg zur Schule bin ich von anderen Kindern geschlagen worden, sie haben mich bespuckt und mich ‚verdammte Jüdin‘ genannt. Ich habe immer versucht, den Stern zu verstecken und habe meinen Schulranzen davor gehalten. Das war natürlich verboten.“
Für Erwachsene ist das Tragen des Judensterns gleichermaßen erniedrigend. Victor Klemperer geht am 19. September, nachdem seine Frau den Stern aufgenäht hat, nur im Schutze der Dunkelheit auf die Straße. Der Weg zum Kaufmann am nächsten Tag kostet ihn enorme Überwindung.
Nachdem der Besuch deutscher Schulen für jüdische Kinder bereits seit November 1938 verboten ist, wird die Reichsvereinigung der Juden im Juni 1942 angewiesen, alle jüdischen Schulen im Deutschen Reich zu schließen. Auch die jüdische Schule in Dresden wird geschlossen. Von nun an ist Irmgard tagsüber auf sich selbst angewiesen. Während Lotte und Walter Hempel bei Zeiss Ikon arbeiten, streunt Irmgard durch Dresden.
„Ich war ziemlich alleine und wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Meine Tante hat mich dann bei einer anderen jüdischen Familie untergebracht, aber die wurde verhaftet, und so war ich also wieder alleine. Meine Tante, die wahrscheinlich nicht wusste, was sie mit mir machen sollte, kaufte mir dann einen Frosch, der mir Gesellschaft leisten sollte. Er saß in einem kleinen Glas, und ich musste Fliegen für ihn fangen. Das hat mich jeden Tag eine Weile beschäftigt. Die restliche Zeit hab ich viele Bücher gelesen.“
Dass Lotte Hempel einen Frosch anstelle eines Hundes oder einer Katze kauft, hat seinen Grund: Per Verordnung ist es Juden und jedem, der mit ihnen zusammenwohnt, ab Mai 1942 verboten, Haustiere (Hunde, Katzen und Vögel) zu halten. Tiere, die bereits im Besitz von Juden sind, dürfen nicht in Pflege gegeben werden. Victor Klemperer berichtet, wie er und seine Frau den geliebten Kater Muschel beim Tierarzt töten lassen müssen.
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