So weit wie möglich weg von hier. Hannah Miska. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hannah Miska
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783954624324
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werde nie vergessen, dass meine Tante Lotti, als ich 19 wurde, eine Party für mich veranstaltet hat – das war die erste Geburtstagsparty meines Lebens.“

      Lotte und Walter fassen schlecht Fuß. Walter möchte gern wieder in einem Orchester spielen, muss aber erst fünf Jahre im Land gelebt haben, bevor er in einem Orchester aufgenommen werden kann. Beide finden Arbeit in einer Eisengießerei, in der Eisenrohre zum Häuserbau hergestellt werden. Walter ist unglücklich, er sorgt sich um seine alte Mutter in Dresden – Walters Bruder, SS-Mitglied, hatte sich am Ende des Krieges in Polen umgebracht –, und es gibt Spannungen in der Ehe. Als Walter in der Fabrik eine Eisenstange auf den Kopf fällt, ist das Maß für ihn voll: Er will zurück nach Deutschland – mit Lotte. Lotte aber lehnt ein Leben in Deutschland, einem Land, in dem ihre ganze Familie verfolgt worden war und sie selbst nur mit viel Glück überlebt hatte, ab. Walter kehrt alleine zurück nach Deutschland – eine Tragödie für alle Beteiligten, auch für Irmgard.

      „Ich habe noch Briefe von Onkel Walter, die sind herzzerreißend. Er fühlte wohl eine tiefe Schuld, dass er seine Frau Lotte verlassen hatte. Tante Lotti hat dann bald versucht, die australische Staatsangehörigkeit zu bekommen – das erste Mal wurde es abgelehnt, weil man vermutete, dass Walter Hempel ein Spion sei; das hat man meiner Tante jedenfalls später erzählt. Der zweite Antrag war dann erfolgreich. Tante Lotte ging noch auf die Abendschule und wurde Kauffrau in einem Büro. Sie starb 2001 im Alter von 88 Jahren. Wie alt Onkel Walter wurde, weiß ich nicht, der Kontakt brach dann irgendwann ab.“

      1951 lernt Irmgard Oskar kennen – einen polnischen Juden, der außer seinem Cousin, der in der Sowjetunion überlebte, seine ganze Familie im Holocaust verloren hat. Irmgard – die sich jetzt Irma nennt, weil offenbar kein Australier ihren Namen aussprechen kann oder ihn sowieso abkürzt – und Oskar heiraten zwei Jahre später. Kurz darauf erbt Irma etwas Geld von einem Bruder ihres Großvaters, der in Australien lebt. Das junge Paar kann sich von dem Geld ein Haus in Melbourne kaufen, und an dem Tag, an dem sie die Schlüssel für das Haus in der Hand halten, wird Sohn Bernhard geboren. 1956, zwei Jahre später, kommt Sohn Robert auf die Welt.

      Irma mit ihrem Mann Oskar und den beiden Söhnen anlässlich Bernhards Bar-Mizwa, Melbourne 1967

      „Wir haben mit den Kindern nie über den Holocaust gesprochen, bis sie uns gefragt haben, warum sie eigentlich keine Großeltern haben. Da waren die beiden ungefähr sieben und neun. Da mussten wir dann anfangen, den Kindern alles zu erklären.“

      Oskar ist Klempner und macht sich selbständig, Irma erledigt alle Büroarbeiten. Beide arbeiten viel und schwer, um den Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen und um peu à peu Anschaffungen machen zu können. Bernhard lernt zunächst wie sein Vater den Beruf des Klempners, entscheidet sich dann jedoch, Lehrer zu werden. Robert studiert Medizin und wird Arzt für Allgemeinmedizin.

      Oskar stirbt tragischerweise bei einem Unfall, er wird nur 63 Jahre alt.

      „Ein Freund hatte meinen Mann gebeten, etwas auf seinem Dach zu reparieren. Oskar fiel vom Dach – und verletzte sich dabei tödlich. Ach, das war die allergrößte Tragödie in meinem Leben. Er erlebte noch die Hochzeit unseres ältesten Jungen,und die Approbation unseres jüngeren Sohnes als Arzt. Aber er hat keines unserer fünf Enkelkinder kennengelernt.“

      Irma ist erst 55 Jahre alt, als Oskar stirbt. Aber sie geht keine neue Bindung ein – Oskar bleibt die Liebe ihres Lebens.

      „Nachdem mein Mann gestorben war und die Kinder geheiratet hatten, hatte ich das Bedürfnis, noch einmal etwas zu tun, etwas Wichtiges. Da haben mich dann Freunde eingeladen, doch im Holocaust-Museum zu arbeiten. Ich habe zuerst in der Abteilung angefangen, in der Zeugenaussagen gesammelt und aufgezeichnet werden. Erst später habe ich dann begonnen, Besucher durchs Museum zu führen und vor ihnen zu reden. Manchmal finde ich das nicht einfach. Je älter ich werde, desto emotionaler werde ich. Aber wenn ich dann das positive Feedback insbesondere von den jüngeren Menschen höre, dann denke ich: Meine Arbeit lohnt sich und ist nicht umsonst.“

      Irma an ihrem 84. Geburtstag mit den Enkelkindern Ilana, Dovi, Oscar, Lena und Avi, Melbourne, 9. Juni 2014

      Kurz nach dem Krieg wird Lotte Hempel von einer Frau kontaktiert, die als Zeugin Jehovas im Konzentrationslager Ravensbrückinhaftiert war. Im KZ hatte sie Rosa Conradi kennengelernt – Irmgards Mutter und Lottes Schwester. Für den Fall, dass sie nicht überleben sollte, hatte Rosa dieser Frau den Wunsch abgenommen, Lotte zu kontaktieren. „Und sagen Sie doch bitte meiner Schwester, dass sie auf meine kleine Tochter Acht geben soll“, gab sie ihrer Leidensgenossin in Ravensbrück mit auf den Weg. Rosa überlebte nicht. Die Frau berichtet, dass Rosa Conradi aufgrund von medizinischen Experimenten, die an ihr vorgenommen worden waren, Wundbrand bekam und daran starb.

      Stolperstein von Rosa Conradi in der Bautzner Straße 20 in Dresden, 2009

      Im November 2008 bekommt Irmas Sohn Robert Antwort auf seine Anfrage beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen. Er wird darüber informiert, dass seine Großmutter am 2. November 1939 in das Konzentrationslager Ravensbrück eingeliefert wurde. Der Vorwurf lautet: „Rassenschande“ – sexueller Verkehr mit einem Arier.

      Von Ravensbrück wird sie ins Untersuchungsgefängnis Dresden überführt, von dort am 13. April 1940 wieder ins KZ Ravensbrück geschickt. Dort stirbt sie am 29. Mai 1942. Rosa Conradi ist erst 30 Jahre alt.

      Im Jahr 2009 wird in Dresden der „Verein Stolpersteine für Dresden“ gegründet, der es sich zur Aufgabe macht, an die Bürger Dresdens zu erinnern, die während der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Religion, ihrer politischen Überzeugung oder ihrer Sexualität ermordet worden sind. Im November 2009 wird in der Bautzner Straße 20 ein Stolperstein für Rosa Conradi gelegt.

       Polen: Die Tragödie einer Nation

      „Die blühendste Phantasie einer Greuelpropaganda ist arm gegen die Dinge, die eine organisierte Mörder-, Räuber- und Plündererbande unter angeblich höchster Duldung dort verbricht … Diese Ausrottung ganzer Geschlechter mit Frauen und Kindern ist nur von einem Untermenschentum möglich, das den Namen Deutsch nicht mehr verdient. Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein.“

      Helmuth Stieff, Leiter der Organisationsabteilung III im Generalstab des Heeres (später Widerstandskämpfer des 20. Juli, hingerichtet im August 1944) in einem Brief vom 21. 11. 1939 aus Warschau an seine Frau.

      Am Ende des 18. Jahrhunderts erlebte Polen, dessen Geschichte bis ins 10. Jahrhundert zurückreicht, seinen ersten Untergang in den sogenannten drei Teilungen: Russland, Preußen und Österreich teilten den Staat in drei Schritten unter sich auf, die Republik Polen hörte für die nächsten 120 Jahre auf zu existieren. Erst im Ergebnis des Ersten Weltkrieges erlangte Polen seine Souveränität zurück, es entstand die Zweite Polnische Republik.

      Die hundertzwanzigjährige Geschichte der Fremdherrschaft war traumatisch für Polen. Die größere Katastrophe stand dem Land und seinen Bewohnern allerdings noch bevor: Sie begann mit dem Angriff der deutschen Wehrmacht am 1. September 1939 und endete mit der völligen Zerstörung des Landes.

      Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges hatte Polen eine Bevölkerung von 35 Millionen Menschen, darunter 3,3 Millionen Juden. Das war mit Abstand die größte Konzentration von Juden in ganz Europa. Die Mehrheit von ihnen lebte in den Städten, wo sie oft einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung ausmachten. Das Zentrum des polnischen Judentums war die Hauptstadt Warschau. Mit seiner reichen Kultur und Architektur hatte sich Warschau über die Jahrhunderte hinweg zu einer der bedeutenden europäischen Städte entwickelt und wurde das Paris des Ostens genannt. Die 375.000 Warschauer Juden – nur die Stadt