Schon bald wuchs in mir der Wille, ein neues Deutschland mitzugestalten – ein Deutschland, in dem sich nicht wiederholen sollte, was geschehen war; ein Deutschland, das ein Stabilitätsfaktor für Entspannung und Frieden in ganz Europa wäre.
Theodor Heuss, als erster Bundespräsident führender Repräsentant der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, mahnte schon frühzeitig, die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus wachzuhalten. Er hielt eine kritische Auseinandersetzung mit der Nazi-Diktatur für außerordentlich wichtig, um die Demokratie, die ja von den Deutschen nicht selbst erkämpft war, auch wirklich Wurzeln schlagen zu lassen. Doch der breite Diskurs in der Gesellschaft über die Ursachen des Nationalsozialismus und insbesondere über den Völkermord an den Juden blieb zunächst aus.
Vor allem nach den Auschwitz-Prozessen, die am Anfang der sechziger Jahre begannen und das ganze Ausmaß des Verbrechens offenbarten, wuchs die Bereitschaft, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen. Nun wuchs auch das Interesse an sogenannten Zeitzeugen – an Menschen, die aus eigenem Erleben über die Verbrechen der Nationalsozialisten berichten konnten. Sie hatten bisher geschwiegen – nicht zuletzt deshalb, weil sich niemand für ihr Schicksal interessierte.
Die Stimmen der Zeitzeugen werden bald verstummen. In Zukunft werden sich nur noch Historiker über das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte, den Völkermord an den Juden, äußern. Deshalb ist es so wichtig, den jetzt noch Lebenden zuzuhören.
Die Autorin des Buches hat genau dies getan. Sie hat viele Jahre in Melbourne gelebt und dort im jüdischen Holocaust-Museum gearbeitet – zusammen mit einer Anzahl von überlebenden Juden aus ganz Europa, die dieses Museum aufgebaut haben und dort auch heute noch ehrenamtlich arbeiten. Es war eine Chance, die Erinnerungen dieser Überlebenden aufzuschreiben und für die Nachwelt zu bewahren, Hannah Miska hat sie ergriffen. In langen, intensiven Gesprächen – in der häuslichen Umgebung, in Cafés oder auch im Museum – gaben die Emigranten ihre Lebensgeschichten preis. Durch die intime Kenntnis der Zeitzeugen gelang es der Autorin, auch manch verborgene, schmerzvolle Erinnerung zu Tage zu fördern.
Es handelt sich bei den Emigranten um Menschen wie du und ich, die während der zwölf Jahre der NS-Diktatur Kinder und Jugendliche waren. Aus für sie unbegreiflichen Gründen mussten sie sich plötzlich verstecken oder angstvoll unter einer anderen Identität leben, wurden „abgeholt“ und von ihren Eltern getrennt, landeten in Arbeits-, Konzentrations- oder Vernichtungslagern und verloren oft ihre ganze Familie.
Die Autorin stellt die völlig unterschiedlichen Lebenswege in einen geschichtlichen Kontext. Der Leser erhält so umfassende Informationen über Konzentrationslager und Ghettos, über Zwangsarbeit und Nazi-Medizin, über die Vernichtung der Juden, eben über den SS-Staat und seine unvorstellbare Menschenverachtung. Er wird aber auch informiert über Widerstand und Helfer im Nationalsozialismus. Erst die Einzelschicksale machen die Geschehnisse der damaligen Zeit persönlich emotional erlebbar. Die Autorin erzählt die Biografien unter Verwendung zahlreicher Zitate. Sie erzählt sachlich und ohne Larmoyanz. Dennoch wirken die Schilderungen tief. Vor allem aber regen sie uns zum Nachdenken darüber an, was Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Andersgläubigen und Menschen unterschiedlicher Ethnizität für uns im 21. Jahrhundert bedeutet.
Wir leben heute in einer stabilen Demokratie, in einem Deutschland, das fester Bestandteil eines vereinten, friedliebenden und wohlhabenden Europa ist. Es gibt nur noch wenige Menschen, die die Schreckensjahre zwischen 1933 und 1945 bewusst erlebt haben. In einer solchen Zeit ist die Versuchung groß, die Vergangenheit mit ihren schrecklichen Ereignissen ad acta zu legen. Dazu darf es nicht kommen. Im Gegenteil – die Erinnerung muss immer wieder bewusst machen: Die Demokratie ist ein kostbares Gut, sie muss von allen Bürgerinnen und Bürgern mitgestaltet werden, um sie zu bewahren. Das ist die Botschaft insbesondere für die junge Generation. Die vorliegenden Lebenserinnerungen machen deutlich, wie wichtig Mut und Zivilcourage, Toleranz und Dialog in einer zunehmend diversifizierten Gesellschaft sind. Das galt gestern so wie heute.
Theodor Heuss hatte Recht: Ohne Kenntnis der Vergangenheit verstehen wir schwerlich die Probleme der Gegenwart und können keine Verantwortung für die Zukunft übernehmen.
Hans-Dietrich Genscher Bundesminister a. D.
Einleitung: Von Europa nach Melbourne
Mit knapp über vier Millionen Einwohnern ist Melbourne, im Südosten des Landes in der Bucht Port Phillip gelegen, die zweitgrößte Stadt Australiens. Dank einer aktiven Immigrationspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Zahl der „Melburnians“, wie sich die Einwohner der Stadt nennen, seit 1945 knapp vervierfacht. Die Migranten kommen aus allen Teilen Europas und Asiens und prägen das multikulturelle Bild der Stadt: Im italienischen Viertel findet man ein italienisches Restaurant neben dem anderen, im griechischen Viertel sitzen Männer vor den Cafés und trinken ihren Espresso, und im asiatischen Viertel kann man vietnamesische Frühlingsrolle, Thai Curry und Peking-Ente essen. Im Süden der Metropole, ganz in der Nähe des beliebten Stadtstrands, gibt es auch ein jüdisches Viertel mit einer nahezu europäischen „Fressmeile“, in der man koschere Falafel, Guglhupf und dunkles europäisches Brot bekommt. Zum Straßenbild gehören hier die orthodoxen Juden mit ihren Bärten und Schläfenlocken.
Trotz ihrer Größe ist die Stadt liebenswert entspannt und frei von jeder Hektik, Melbourne gewann über Jahre hinweg den Titel „Lebenswerteste Stadt der Welt“. Insgesamt sieben Jahre, von 2003 bis 2010, habe ich in der grünen Stadt am Meer gelebt.
Erst in „meinem dritten Jahr“ entdeckte ich im jüdischen Viertel Melbournes ein kleines Hinweisschild auf ein „Jewish Holocaust Centre. Remembrance Education Museum“. Ein jüdisches Holocaust-Museum in Australien? Ich fand es versteckt in einer unscheinbaren Nebenstraße. Das kleine, fast intime Museum enthielt eine beeindruckende Sammlung an Fotos, Dokumenten und diversen Exponaten über das religiöse, kulturelle und berufliche Leben der Juden im Vorkriegseuropa, über den Aufstieg der Nationalsozialisten, über Demütigung, Erniedrigung und Terror, über mobile Einsatzgruppen und Erschießungen in Polen, über Ghettos und Deportationen, über Konzentrations- und Vernichtungslager, aber auch über Menschen, die ihr eigenes Leben riskierten, um jüdische Freunde, Nachbarn, ja Unbekannte zu retten.
Ich blieb vor einem Foto stehen, das zwei Mädchen im Teenageralter zeigte – Zwillinge, an denen der berüchtigte SS-Arzt Josef Mengele seine Experimente ausgeführt hatte. Noch während ich auf das Foto schaute, näherte sich mir eine ältere Dame. Sie blieb neben mir stehen und sagte in sehr freundlichem Ton: „Wenn Sie mehr über diese Mädchen erfahren wollen – ich bin eines von ihnen.“
Auf diese sehr eindringliche Weise erfuhr ich Näheres über die aus Prag stammenden Zwillinge Stephanie Heller und Annetta Able, die Auschwitz-Birkenau überlebt hatten, nach dem Krieg nach Prag zurückgingen, aber keinen ihrer Angehörigen mehr lebend vorfanden, dann nach Israel beziehungsweise nach Kenia auswanderten, bevor sie schließlich nach Australien emigrierten und nun bereits seit Jahrzehnten in Melbourne leben. Und ich begriff, warum es ein Holocaust-Museum im fernen Australien gibt: Weil Tausende von Juden aus ganz Europa entweder noch vor Beginn, hauptsächlich aber nach Ende des Zweiten Weltkrieges nach Australien emigriert waren. Ihr Credo war: So weit wie möglich weg von Europa. Mit dem Museum haben sie eine Gedenkstätte für ihre ermordeten Familienangehörigen errichtet.
Die Verfolgung der Juden hatte unmittelbar mit der Errichtung des Hitler-Regimes begonnen. Trotz Diskriminierung, Demütigung und Ausgrenzung, trotz der ständigen Flut von antijüdischen Maßnahmen war in den ersten fünf Jahren nur etwa ein Viertel aller deutschen Juden ausgewandert. Es waren diejenigen, die die Gefahr rechtzeitig erkannt hatten, die jung genug waren, um einen beruflichen Neuanfang in einem fremden, anderssprachigen Land, in einer fremden Kultur zu wagen, und die auch den Mut dazu hatten.
Die wenigsten jedoch hatten begriffen, in welcher Gefahr sie sich wirklich befanden – oder sie zögerten, ihre Heimat, ihre Familie, ihre Freunde zu verlassen, was zudem mit einem erheblichen finanziellen Verlust verbunden war: Der eigene Besitz konnte nur noch zu lächerlichen Preisen verkauft werden, eine Reichsfluchtsteuer wurde erhoben, und der Einkauf von Devisen war nur gegen extrem hohe Umtauschkurse möglich. Man hoffte