„Die haben Läden aufgebaut und ein Café und sogar ein Karussell aufgestellt. Dann haben sie Geld gedruckt – und ob Sie es glauben oder nicht: Da haben sie hinten Moses und die Zehn Gebote draufgedruckt.“
Das Rote Kreuz stattet seinen Besuch am 23. Juni 1944 ab, drei Delegierte dürfen in das Lager.
„Als das Rote Kreuz dann kam, gab es alle möglichen kulturellen Veranstaltungen: Da wurde zum Beispiel ein Fußballspiel gespielt und eine Theateraufführung gegeben. Die Karren, die immer zum Abtransport der Leichen benutzt wurden, waren weiß gestrichen und mit Broten beladen worden, und die Leichenträger hatten schöne weiße Kittel an. Trotzdem: Es ist mir ein absolutes Rätsel, wieso die nicht gemerkt haben, dass alles um sie herum eine einzige Fälschung war.“
Um auch der beunruhigten Weltöffentlichkeit zu zeigen, was für ein wunderbares Leben die Juden im Deutschen Reich bzw. in den von den Deutschen besetzten Gebieten führen, drehen die Nazis einen Propagandafilm.
„Ich musste auch mitspielen und hoffte, dass meine Tante mich vielleicht sehen würde. Mein Part war, zusammen mit anderen Kindern einfach an einem großen Tisch zu sitzen – an einem großen Tisch voller geschmierter Brote. Nachdem die Szene gedreht war, verschwanden aber auch die Brote. Wir Kinder kriegten nicht ein einziges Brot, das war eine schreckliche Enttäuschung für uns.“
Während ihrer Lagerzeit wird Irmgard Zeugin von elf Transporten, die in den Osten abgehen. Im April 1945 sieht sie Häftlinge ankommen, die, weil die Rote Armee auf dem Vormarsch ist, hastig aus anderen Konzentrationslagern evakuiert worden sind.
„Die Hälfte der in die Viehwaggons gepferchten Menschen war schon tot, als sie ankamen. Und die andere Hälfte, die Lebenden – das waren Halbtote, reine Skelette, junge Menschen, die aussahen wie achtzig. Es war wirklich schrecklich.“
Am 5. Mai 1945 verlässt die SS das Lager, drei Tage später ist die Rote Armee da. Noch ist das Leid der Mädchen jedoch nicht vorbei.
„In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai hörten wir, dass in der Nachbarbaracke Mädchen vergewaltigt wurden. Zum Glück kamen am nächsten Tag russische Offiziere und machten dem Spiel ein Ende. Dann wurde das Lagerhaus aufgemacht, und wir bekamen Kleider und Schuhe – wir hatten ja nur Holzpantoffeln.“
Lotte Hempel wird vom Roten Kreuz informiert, dass ihre Nichte am Leben sei. Lotte selbst hat im Versteck überlebt. Wie die anderen knapp 200 noch verbliebenen Juden in Dresden – entweder Mischlinge ersten Grades oder Juden, die mit einem „Arier“ verheiratet sind – erhält sie am 13. Februar 1945 eine schriftliche Aufforderung, sich am 16. Februar, also drei Tage später, mit Handgepäck und Proviant für zwei bis drei Arbeitstage zu einem „auswärtigen Arbeitseinsatz“ in der Zeughausstraße einzufinden. Der „Arbeitseinsatz“ ist eine Tarnung – tatsächlich planen die Nazis, nunmehr auch die bislang verschont gebliebenen Juden zu deportieren. Lotte beschließt zu Bekannten zu flüchten, die bereit sind, sie zu verstecken, und schreibt zur Tarnung einen Suizid-Abschiedsbrief an ihren Mann, der bereits vor Monaten in ein Arbeitslager verbracht worden war.
Irma (r.) mit einer Freundin kurz nach der Befreiung
Am Abend des gleichen Tages, an dem Lotte die Aufforderung zum „Arbeitseinsatz“ erhält, beginnt der erste von mehreren schweren Luftangriffen auf Dresden. In den nächsten beiden Tagen fallen Tausende von Bomben. Der resultierende Feuersturm zerstört weite Teile der Innenstadt, über zwanzigtausend Menschen verbrennen, ersticken oder sterben durch Hitzeschock und Luftdruckwellen. Lotte hat Glück. Sie überlebt das Bombardement, reißt sich geistesgegenwärtig den Stern von der Kleidung und taucht unter. Die Bekannten sind selbst ausgebombt, aber es gelingt Lotte, sich bei einem Bauern auf dem Land zu verstecken. Auch Walter überlebt.
Lotte holt ihre Nichte Irmgard nach Hause.
„Sie hat sich wie verrückt gefreut, mich zu sehen. Ich kann mich seltsamerweise an keinerlei Gefühle erinnern. Ich war wie betäubt und völlig versteinert. Noch eine ziemlich lange Zeit nach Kriegsende war ich nicht in der Lage zu weinen.“
Irmgard ist 15 Jahre alt und möchte gern Kindergärtnerin werden. Aber mit ihren vier Schuljahren bekommt sie dafür keinen Ausbildungsplatz. Stattdessen macht sie eine Ausbildung zur Schneiderin. Es ist ein großer Augenblick für Irmgard, als sie von einer jüdischen Organisation zu einem Urlaub eingeladen wird. Zusammen mit anderen Jugendlichen erlebt sie wunderschöne Ferien am Wannsee im Südwesten der Stadt Berlin.
„Es war traumhaft, wir hatten eine tolle Zeit. Ich konnte zwar nicht schwimmen, aber ich habe das Wasser geliebt, und ich habe mir dort sogar ein Bikinioberteil gehäkelt. Ich habe noch ein Foto von mir und von anderen im See.“ Ein Lächeln huscht über Irmgards Gesicht, aber sie wird gleich wieder ernst. „Ich konnte es kaum glauben, als ich später erfuhr, dass der Wannsee der Ort war, an dem die Nazis die ‚Endlösung‘ beschlossen hatten, die völlige Auslöschung der Juden.“
Die Freunde, die sie dort kennen lernt, überreden Irmgard, mit ihnen in einem Kibbuz in Berlin zu leben.
„Das war die glücklichste Zeit in meinem Leben. Ich habe dort viele Freundschaften geschlossen, und ich war fest entschlossen, nach Palästina zu gehen. Aber meine Tante wollte mich nicht gehen lassen, ich war noch nicht 18 und brauchte ihre Zustimmung. Sie hatte Angst, dass es Krieg geben würde in Palästina und kam also nach Berlin, um mich abzuholen.“ Irmgard lacht: „Ich wollte nicht mit ihr mitgehen und habe mich in einem Schrank versteckt, aber es hat nichts geholfen.“
Lotte bemüht sich um Einreisevisa für Australien, wo ihr Bruder Max lebt. Das erste Visum wird für Irmgard ausgestellt – sie verlässt das heutige Deutschland während der Berlin-Blockade im September 1948. Die Sowjets hatten die Land- und Wasserstraßen West-Berlins blockiert und die Amerikaner zur Versorgung der Berliner eine Luftbrücke eingerichtet. Mit einem amerikanischen Flugzeug dieser Luftbrücke – im Volksmund wegen des Kaugummis und der Süßigkeiten für die Kinder auch „Rosinenbomber genannt“ – fliegt Irmgard aus Berlin aus. Der Flug geht nach Marseille, dort kümmert sich das Joint (American Jewish Joint Distribution Committee), eine amerikanisch-jüdische Hilfsorganisation, um die Flüchtlinge, bevor sie nach Paris weiterreisen.
„Wir blieben zehn Wochen in Paris. Die UNRRA1, eine Organisation der Vereinten Nationen, brachte uns in einem billigen Quartier in Pigalle unter, das war das Rotlichtviertel. Wir bekamen jeden Tag eine warme Mahlzeit und ein bisschen Taschengeld. Aber die Prostituierten gingen da in den benachbarten Räumen ihrem Gewerbe nach, und die Wände waren hauchdünn. Das war schrecklich, ich habe mich da ziemlich alleine gefühlt und habe jede Nacht in mein Kissen geweint.“
Im Spätherbst ist es soweit: Irmgard besteigt den Ozeandampfer „Volendam“ in Rotterdam und erreicht einige Wochen später, am 19. Januar 1949, den Hafen von Melbourne.
„Mein Onkel Max und seine australische Frau Mary haben mich am Hafen abgeholt – ich habe mich so gefreut, ihn zu sehen, und er hat sich genauso gefreut. Ich habe dann erst mal bei meinem Onkel und meiner Tante in Richmond, einem Stadtteil von Melbourne, gelebt. Tante Mary war unheimlich nett – ich mochte sie sofort und sie mich auch.“
Eine Woche nach Ankunft in Australien beginnt Irmgard, als Näherin in einer Bekleidungsfabrik zu arbeiten. Sie verdient 30 Schilling die Woche – 10 davon gibt sie zu Hause ab, 10 spart sie, und den Rest gibt sie aus für die Straßenbahn, für Schuhe und Kleidung – sie ist ja nur mit einem Koffer in Melbourne angekommen und besitzt nicht viel. Max und Mary sprechen Englisch zu Hause, und auch in der Fabrik muss Irmgard Englisch reden, um sich zu verständigen. So lernt sie die Sprache schnell.
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