Sammelband 6 Extra Western September 2018. Alfred Bekker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alfred Bekker
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Вестерны
Год издания: 0
isbn: 9783745205664
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dachte daran, dass wir diese persönlichen Dinge am besten Jesse geben sollten.

      Gedankenverloren blickte ich auf Jesse, und da fiel mein Blick auf seine Stiefel. In die Schäfte waren die Insignien J und R eingebrannt.

      Verdammt, dachte ich. Hoffentlich sieht Hutchinson das nicht.

      Er sah es auch nicht. Aber Flame hatte es gesehen. Er rief Jesse zu: „Haben Sie diese Stiefel dem Toten etwa abgenommen?“

      Jesse kapierte nicht gleich. Und da sagte ich: „Mein Gott, das ist doch nicht schlimm. Du kannst doch zugeben, dass du die Stiefel von Jesse hast. Es ist kein Verbrechen. Zu seiner Himmelfahrt hatte Jesse die nicht mehr nötig.“

      Das war der grobe Unsinn, den ich da sagte, denn John trug seine Stiefel, und sie würden das auch sehen, wenn sie ihn tatsächlich aus der Felsspalte herausholten.

      Noch etwas fiel mir auf. Jesse war nervös. Sein Blick wirkte unstet. Er spürte gar nicht, dass Flame ihn weiterhin beobachtete.

      Ich hatte plötzlich ein ungutes Gefühl. Diese ganze Geschichte drohte uns aus den Fingern zu gleiten. Der Zufall war gegen uns.

      Ich weiß nicht, ob ich der einzige war, der dies voraussah. Hutchinson jedenfalls ließ sich nichts anmerken, falls er hinter unsere Schliche gekommen sein sollte.

      Er und Flame versorgten die Pferde und Maultiere, und mir fiel nicht einmal auf, dass sie miteinander tuschelten, obgleich ich gerade damit rechnete. Sie benahmen sich, wie es schien, völlig arglos. Und trotzdem war mir vorhin Flames Blick nicht entgangen. Und das gab mir zu denken.

      Als ich mit Weber allein war und sicher sein konnte; dass mich weder Hutchinson noch Flame hören konnte, sagte ich zu Weber:

      „Die haben Lunte gerochen. Verlass dich darauf.“

      Zu meiner Überraschung erklärte er: „Ich weiß, Callahan. Beide sind dahintergestiegen. Die wollen uns nur noch den Beweis liefern. Der Tote ist der Beweis.“

      „Was sollen wir tun?“, fragte ich. „Wir können doch Jesse nicht den Kerlen ans Messer liefern, obgleich ich zugeben muss, dass dieser Hutchinson eigentlich nicht unsympathisch ist.“

      „Du hast zwar recht“, erwiderte er, „aber wir sitzen alle im selben Boot.“

      „Natürlich“, bestätigte ich. „Ich habe keine Sekunde daran gedacht, Jesse auszuliefern.“

      „Ich auch nicht.“ Er stopfte sich umständlich seine Pfeife, zündete sie an, und als sie qualmte, fuhr er fort: „Wenn sie unbedingt müssen, sollen sie ihn sich holen, wenn wir unten in Lander sind. Solange wir ein Team bilden, werden wir anderen uns vor ihn stellen. Er hat keinen Menschen ermordet. Und ob er die Kutsche wirklich ausgeraubt hat, müsste erst noch bewiesen werden. Ein Haftbefehl ist kein Urteil.“

      *

      NACH ETWAS MEHR ALS einer Stunde machten die beiden ihre Tiere wieder fertig und bereiteten sich für ihren Abmarsch vor. Flame stand schon bei den Tieren und hielt sie am Zügel. Hutchinson hatte sich sein Hemd jetzt in die Hose gesteckt, hielt die Daumen in den Gürtel gehakt und kam auf mich zu.

      „Von dir hab’ ich schon eine Menge gehört, Callahan. Jetzt, wenn ich so darüber nachdenke, fällt es mir ein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dir Spaß macht, wenn du dich in der Gesellschaft von Postkutschenräubern befindest. Aber vielleicht glaubst du, dieser Bursche ist unschuldig.“

      „Ob schuldig oder unschuldig“, erwiderte ich, „er ist tot. Beide sind tot. Da müssen sie ihre Schuld vor einem höheren Richter vertreten.“

      „Der eine ist tot“, widersprach mir Hutchinson. „Der andere lebt. Da bin ich ziemlich sicher. Ich kann es nur noch nicht beweisen.“ Jetzt sah er unverhohlen Jesse an. Also stimmte es, was Weber gesagt hatte. Auch Hutchinson war von Anfang an dahintergekommen.

      „Ich werde mir die Stiefel des Toten ansehen, von dem ihr gesagt habt, es sei Jesse Richmond. Und nicht nur die Stiefel. Es gibt da einen Hinweis, und der könnte mir helfen, festzustellen, ob ich mit meiner Ansicht recht habe. Habe ich aber recht, Callahan, dann bin ich bald wieder hier. Hab’ ich aber unrecht, seht ihr mich höchstens zufällig wieder. Und bis dahin wünsch’ ich euch was.“ Er wandte sich ab und wollte zu Pferden und Maultieren zurückgehen.

      Abe, Otto und Joshua befanden sich zu diesem Zeitpunkt an unserem Essplatz. Der bestand aus zwei grob zugeschlagenen Halbstämmen, die wir als Tisch benutzten, und zwei Bänken auf beiden Seiten. Dieser Essplatz stand zwischen den Zelten. Also oberhalb des Stolleneingangs.

      Jesse lehnte unten an der Waschanlage. Er lungerte schon die letzte Viertelstunde da unten herum, und dabei hätte ich mir eigentlich etwas denken sollen.

      Der Marshal und Flame mussten mit ihren Tieren da unten vorbei. Ich hatte sofort, wie ich an Jesse denken musste, eine warnende Eingebung.

      Verdammt, sollte es Jesse darauf abgesehen haben, die beiden womöglich zu erschießen, am Ende noch von hinten? Nur, um Zeugen loszuwerden? Es wäre ja der größte Wahnsinn, den einer tun konnte. Nicht nur, weil wir anderen Zeugen dieser Tat sein würden, sondern weil man Unrecht nicht durch noch größeres Unrecht auslöschen kann. Es war ein Gesetz, das sich einfach nicht umstoßen ließ.

      Jesse schien dieses Gesetz nicht zu kennen. Meine Ahnung trog nicht. Er hatte etwas vor, ich sah es ihm an, als ich zu ihm hinunterblickte. Es sah auf den ersten Blick hin aus, als wollte er etwas an dem Wasserrad reparieren. Aber da war alles in Ordnung.

      Weil er das tat und den Anschein erwecken wollte, er brächte etwas in Ordnung, deshalb wurde ich misstrauisch. Ja,„ war es für mich eine Gewissheit, dass Jesse einen Anschlag auf den Marshal vorhatte.

      Plötzlich entdeckte ich sein Gewehr und die beiden Revolver. Ich weiß nicht, wo er die zweite Waffe herhatte. Vielleicht war es die von Joshua. Gewehr und Revolver.lagen griffbereit auf einem Vorsprung neben der Waschanlage. Hutchinson und Flame konnten die drei Waffen nicht sehen. Für sie war Jesse ein waffenloser Mann; vollkommen harmlos, keine Gefahr. Wahrscheinlich dachte das auch Hutchinson, als er etwa mit Jesse in gleicher Höhe war und zu ihm herüberschaute. Er blieb sogar stehen, musterte Jesse, aber der tat, als ginge ihn das alles nichts an. Doch ich bemerkte, dass er unter halbgesenkten Lidern den Blick des Marshals erwiderte.

      Unschlüssig ging Hutchinson weiter. Wahrscheinlich war er darauf hereingefallen, dass Jesse keine Waffen trug.

      Ich kannte Jesse, diesen quicklebendigen Burschen. Ich traute ihm keinen Postüberfall zu. Aber jetzt war Jesse drauf und dran, ob schuldig oder unschuldig, ein Verbrechen zu begehen. Er hatte es sogar vorbereitet.

      Rein zufällig warf ich mal einen Blick auf Flame, der schon weiter unten mit den Tieren war, und da sah ich, dass der angehalten hatte. Er stand zwischen den beiden Maultieren, die Zügel hatte er losgelassen. Statt dessen presste er den Kolben seiner Winchester an die Hüfte. Die Mündung zeigte auf Jesse.

      In diesem Augenblick machte Jesse einen halben Schritt nach vorn, und mir war klar, dass er jetzt zu den Revolvern oder dem Gewehr greifen würde. Er hatte Flame offensichtlich nicht beachtet, sondern sein ganzes Augenmerk Hutchinson zugewandt.

      Hutchinson wandte in diesem Augenblick Jesse den Rücken zu.

      Er wird ihm doch nicht in den Rücken schießen? dachte ich. Da packte Jesse den Revolver und brüllte: „Marshal!“

      Er schießt ihn doch nicht in den Rücken, dachte ich. Dann war mir zugleich klar, dass Jesse nicht die mindeste Chance hatte, wenn Flame ein guter Schütze sein sollte.

      „Jesse!“, brüllte ich. „Runter! Weg mit dir!“

      Jesse kapierte nicht. Was auf unserem Marsch vielleicht funktioniert hätte, jetzt versagte es. Er hörte überhaupt nicht auf meine Warnung, sondern riss die beiden Revolver hoch, um zu feuern.

      Da blitzte es unten bei Flame auf!

      Jesse