„Was will ich also wirklich?“, frage ich mich laut und beginne wieder, durch das Zimmer zu tigern.
Will ich tatsächlich zurück in mein altes Leben? Nein.
Gibt es eine Alternative zu diesem verrückten Angebot? Nein.
Ich setze mich wieder an den Schreibtisch und notiere:
Ich bin meine gesamten Schulden los. Ich kann mir eine neue Existenz aufbauen.
Ich kann mich ohne Komplikationen von Peter trennen.
Ich wäre endlich frei und könnte tun und lassen, was ich will.
Aber um welchen Preis?
Vielleicht verfolgen die mich mein ganzes Leben? Und ich werde nie mehr richtig frei sein.
Ich schüttle meinen Kopf. Ist man überhaupt jemals ganz frei? Kann man alles tun, was man will?
Nach einer kleinen Weile gebe ich mir selbst die Antwort. Nein, man ist immer gebunden in einem sozialen System. Man ist nie vollständig frei. Ich befinde mich in einem sozialen Netzwerk und bin auf meine Mitmenschen angewiesen.
Ich gehe zum Fenster und schaue auf die Poollandschaft.
Was ist dem Club denn besonders wichtig?
Das Wichtigste ist, dass ich schweige. Und das ist etwas, was ich sehr gut kann. Die Schweigepflicht ist ein wichtiger Bestandteil meines Berufs. Also für mich kein Problem.
Also warum soll ich das Angebot nicht annehmen?
Mir fällt kein Gegenargument ein. Die Tatsache, dass man mir mit dem Tode gedroht hat, falls ich mich nicht an die Schweigepflicht halte, erscheint mir lachhaft.
Weitaus unangenehmer finde ich es allerdings, gegen meinen Willen acht Wochen in diesem Hotel eingesperrt zu sein. Beobachtet, bewacht und kontrolliert zu werden, Tag und Nacht. Ich bin ein freiheitsliebender Mensch, mich wie gefangen zu fühlen, ist ein unzumutbarer Zustand.
Ich fühle, dass ich aggressiv werde.
„Es gibt schlimmere Bedingungen für solch einen Verdienst!“, rufe ich hingegen laut. „Jedes Jahr 600.000 Euro!!! Wahnsinnig viel Geld! Wann bekomme ich noch einmal solch eine Chance?“
Es sind fast zwei Stunden vergangen, als ich auf den Balkon hinausgehe. Ich recke meinen Körper, strecke meine Arme in die Höhe und atmete tief ein und aus.
Ich tue es!
Wenn ich nichts unternehme, habe ich wirklich verloren.
Kurzentschlossen öffne ich die Tür.
Paco steht direkt davor. Er hat wohl die ganze Zeit Wache gehalten. „Tengo mi decisión.“ Er überreicht mir zwei Briefumschläge: „Por favor, devolver su respuesta en uno de los sobres.“
Ich habe verstanden, dass ich meine Antwort ankreuzen und alles in den Briefumschlag stecken soll. Im Zimmer öffne ich beide Umschläge. Der rote große Umschlag ist leer, in dem goldenen sind mehrere Blätter. Die ausführliche Anweisung in Deutsch auf dem ersten Zettel lese ich aufmerksam durch. Dann fülle ich das zweite Blatt aus und kreuze meine Zustimmung bei jeder aufgeführten Regel an. Kurz halte ich noch einmal inne.
Ich weiß, wenn ich jetzt den Vertrag unterschreibe, gibt es kein Zurück mehr.
Mit fest zusammengepressten Lippen unterschreibe ich das Dokument. Alle Seiten falte ich zusammen, stecke sie in den roten Umschlag und klebe ihn zu. Der dritte Zettel ist für eine Ablehnung vorgesehen, den schiebe ich ebenfalls in den goldenen Umschlag.
Mit unbeweglicher Miene nimmt Paco meine Briefe entgegen. „Bitte warten Sie, bis ich mit weiteren Anweisungen zurückkomme“, sagt er und geht zum Aufzug.
Es ist vielleicht eine halbe Stunde vergangen, als Paco an der Tür klopft. Er ist in Begleitung einer Frau so um die vierzig, die mich mit ihren grauen Augen mustert.
„Ich bin Angelika Wegner. Ich stehe Ihnen für alle schriftlichen Arbeiten als Sekretärin zur Verfügung“, erklärt sie mir in perfektem Deutsch.
„Danke“, antworte ich. „Es freut mich, dass ich Ihre Unterstützung habe, denn mein Englisch und Spanisch sind nicht perfekt.“
„Bitte folgen Sie mir. Ich bringe Sie in Ihre neuen Räume. Ihre Kleidung und privaten Utensilien bringt Paco später in Ihre Suite.“
Gemeinsam fahren wir in den obersten Stock des Nebenflügels. Am Ende des Flurs öffnet sie mit einem verzierten goldenen Zimmerschlüssel, mit der Nummer einhundert eine verschnörkelte Holztüre. Auf dem runden Tisch im Empfangssalon steht ein Blumengesteck mit gelben Rosen. Ihr Duft erfüllt den gesamten Raum. Daneben sehe ich auf einem goldenen Tablett eine Flasche Champagner mit zwei Gläsern und … ein Lächeln huscht über mein Gesicht … ein Eiskübel voller Eiswürfel. Ja, so kann man leben.
Frau Wegner öffnet eine Türe, die wohl zum Arbeitszimmer gehört, denn auf einem schwarzen Schreibtisch stehen verschiedene technische Geräte. Mit einem Blick erkenne ich, dass alles, was ich brauche, vorhanden ist. Mit kurzen Worten weist mich Frau Wegener ein. Probeweise schreibe ich auf meinen neuen Computer einige Sätze und drucke die Seite aus. Auch das WI-FI, wie man in Spanien das WLAN nennt, funktioniert.
„Ihr Surface bringen Sie bitte zu jeder Sitzung mit. Ich stehe Ihnen für alle Übersetzungen oder Vervielfältigungen zur Verfügung. Rufen Sie mich bitte an, wenn Sie mich brauchen“, informiert sie mich, und ihr Mund lächelt mich an. Doch ihre grauen Augen starren an mir vorbei. Ihre Lippen sind blass und schmal.
Ich mag sie nicht, und ich glaube, sie mich auch nicht.
„Haben Sie noch weitere Fragen?“, will sie wissen und dreht sich, ohne meine Antwort abzuwarten, zur Tür. Verlässt den Raum.
In diesem Moment kommt Paco, mein farbiger Butler. Er strahlt mich mit breitem Lächeln an, sodass seine weißen Zähne blitzen und seine Haut noch dunkler erscheint. Er sieht perfekt gestylt aus in seinem schwarzen Anzug, dem weißen Oberhemd und der blauen Krawatte. Mit den deutlich definierten Muskeln könnte er jeden Preis im Bodybuilding gewinnen. Er stellt meinen Koffer im Schlafzimmer ab und wendet sich an mich: „Bitte folgen Sie mir. Die Clubmitglieder erwarten Sie schon.“ Und er nimmt mein Surface an sich.
„Vielen Dank“, antworte ich kurz, denn zu mehr bin ich im Moment nicht in der Lage. Zu viele fremde Eindrücke stürmen auf mich ein. Wahrscheinlich werde ich meine Sekretärin öfter um Hilfe bitten müssen, als mir lieb ist. Mit festem Schritt folge ich ihm zur Tür.
Diesen First-Class-Aufenthalt in Marbella habe ich mir nach den traumatischen Erlebnissen in Köln verdient. Punktum, Ende.
Voller Neugierde spüre ich, wie eine Menge des neurochemischen Transmitters Dopamin in meinem Gehirn ausgeschüttet wird. Angstimpulse, die vorhin in meiner Amygdala im limbischen System initiiert wurden, sind verschwunden. Mein Nucleus accumbens giert schon nach den vielen Euros und einem Leben in Luxus. Ich verziehe meine Mundwinkel zu einem Lächeln. Wie mein Professor Roth in den Vorlesungen stets sagte: „Unser Gehirn bestimmt unsere Gefühle und damit unser Verhalten.“
Der dicke Flurteppich verschluckt unsere Schritte. Jetzt erst realisiere ich, dass die Wände mit goldenem Seidenstoff bezogen sind, und die Kristalllüster im Gang stammen sicher von der venezianischen Insel Murano.
Wir gehen nur ein paar Schritte um die Ecke des Ganges, und dort sehe ich die doppeltürige braune Holztür mit dem goldenen Löwenkopf. Der Versammlungsraum befindet sich also direkt neben meiner Suite.
Paco öffnet die Tür und schiebt mir den Stuhl zurecht.
Der Saal ist nicht voll besetzt. Auch diesmal sitze ich einer vermummten Person gegenüber, die wohl den Vorsitz hat. Ob es eine Frau