„Vielleicht sollten wir auch in Erwägung ziehen, dass sich einer der adligen Herren, wie anno 55 der edle Kunz von Kauffungen, daneben benimmt und gar einen Krieg mit dem Landesherrn vom Zaune bricht?“, wirft die alte Bertha aus Ebersdorf ein, die das Drama um die beiden Prinzen damals aus nächster Nähe miterlebt hat.
„Solch eine Auseinandersetzung gefährdet zwar die Dörfer, vermag aber keine Stadt so zu bedrohen, dass die Einwohner flüchten müssen“, bemerkt Mechthilde und fügt hinzu: „Vielleicht erhebt sich aber auch die Bürgerschaft gegen den Rat wie seinerzeit im Jahre 1414. Also irgendetwas in dieser Art wird es wohl sein, was Chemnitz bedroht.“
„Nun, ich will hoffen, dass uns kein Krieg droht. Seit über hundert Jahren mussten wir keinen mehr erleben und es wäre wünschenswert, dass dies auch weitere hundert Jahre so bliebe“, meldet sich ungefragt Ruprecht zu Wort. „Wenn es keine weiteren Anzeichen einer derartigen Gefahr gibt, dann sollten wir uns eher fragen, ob die gute Mechthilde nicht an Stelle der Vision eine Halluzination hatte. Vielleicht hat jemand Vogelbeeren auf die Hochzeitstafel gebracht? Ich meine, es wäre ganz und gar nicht in eurem Interesse, wenn falsche Warnungen die Stadt erreichten!“
Die Alte ist deswegen keineswegs missgestimmt. „Deswegen kommen wir bei solchen Erscheinungen zusammen. Der Grat zwischen Hellsehen und Halluzinieren ist sehr schmal, insbesondere, wenn mit diversen Mittelchen nachgeholfen wird. Allerdings habe ich auf derartige Unterstützung in diesem Falle nicht zurückgegriffen und so prüfen wir den Wahrscheinlichkeitsgehalt in Gemeinschaft.“
Die Frauen wägen die Möglichkeiten ab und beschließen, sehr ernsthaft die nächsten Visionen zu beobachten. Vielleicht droht doch Gefahr. Dann trennen sie sich und begeben sich auf den Weg nach Hause.
Ruprecht hakt seine Mutter und die alte Mechthild unter und gemeinsam wandern sie den Weg talwärts, den Windungen des Pfades im hochgewölbten Gras folgend, die sie um die Hindernisse am Boden herumführen. Im warmen Licht der Sonne tanzen die Bienen und Schmetterlinge von Blüte zu Blüte und metallisch glänzen die Körper der Libellen im Wechsel des Verhaltens auf der Stelle und dem pfeilschnellen Davonhuschen. Sichtlich genießerisch lassen sich die zwei Frauen von ihrem jungen Begleiter stützen und der gibt ihnen gern das Gefühl des Geborgenseins.
Es ist eine geraume Zeit vergangen, seit Ruprecht sich mit seiner Mutter von der Hochzeitstafel davongeschlichen hat und so eilen sie, nachdem sich Mutter Mechthild vor dem Nikolaitor verabschiedet hat, flinken Fußes in die heimatliche Gasse. Sie haben noch nicht das Bretgässchen erreicht, da hören sie einen gewaltigen Lärm aus dem hinteren Teil der Langgasse, die da Hinter der Bach genannt wird und ihr Zuhause darstellt.
Die ganze Hochzeitsgesellschaft hat sich von den Bänken und Schemeln erhoben und allesamt blicken sie hinüber zu der Stelle, wo vorhin noch der Herr Pfarrer mit der Mechthilde debattiert hatte. Hans steht ratlos an der Hecke des brachliegenden Grundstücks neben seinem Anwesen und kratzt sich den zerzausten Schopf. Die Roselers stehen etwas weiter zu ihrem Hause zu und blicken verstört auf die Gesellschaft, während die Gäste eher sensationslüstern zu sein scheinen.
Über all dieser merkwürdigen Anordnung aber liegt ein Geschrei sondergleichen. Es ist die hektische Stimme des Pfarrers, die sich mit dem ruhigen Bass des Bürgermeisters misst. „Und ich sage noch einmal deutlich, dass hier der Teufel seine Hand im Spiel hat!“, geifert der Pfarrer. „Wie kann es sein, dass eine Hexe plötzlich von der Hochzeitstafel aufspringt und Zeter und Mordio schreit? Und dann auf einmal ist sie verschwunden, mit ihr der Bräutigam und seine Mutter! Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen!“
„Nun haltet die Luft an, Hochwürden!“, brummt der Bürgermeister. „Vielleicht hat der Bräutigam mit seiner Mutter etwas herbeizuschaffen, dass es uns nicht dürstet? Eventuell ist die Mechthilde auch allein nach Hause gegangen, weil ihr Euer Gezänk zu viel wurde?“
Eben will der Pfarrer in aller Giftigkeit antworten, da gibt sich Magdalena zu erkennen. „Nur keinen Streit, Herr Pfarrer und Herr Bürgermeister. Eben brachten wir die Mutter Mechthild aus der Stadt, denn ihr ist ein kleines Unglück passiert. Ihr wurde mächtig schlecht und unheimlich. Mir scheint, hier sind Vogelbeeren auf die Tafel gekommen und wenn mich nicht alles täuscht, dann steht dort drüben eine Schale mit diesen Früchten.
Ganz bleich wird der Pfarrer und nunmehr stotternd bringt er hervor: „Bei Gott, dann habe ich wohl halluziniert, denn ich habe davon reichlich genossen. Dachte ich doch, es seien Preiselbeeren und die esse ich für mein Leben gern. Ich werde mich sofort hinlegen. Hoffentlich habe ich mich nicht vergiftet und gehe heim zu unserem Vater!“
„Ach woher denn, Herr Pfarrer, sie können sich höchstens den Magen verdorben haben, so giftig ist das Zeug nun auch wieder nicht“, beruhigt ihn der Bürgermeister. „Da hilft nur reichlich trinken, dass der Körper gut durchgespült wird!“ Mit Elan schiebt er seinem Widerpart den Bierkrug zu. Der nimmt ihn nur zu gern auf und lässt das Nass glucksend durch die Kehle rinnen, erhöht doch das Wissen um die heilende Wirkung solchen Tuns enorm das Selbstbewusstsein.
Die Gesellschaft scheint dies als Aufforderung zu verstehen. Im Nu schlagen die Krüge im Takt auf die Tafel und lautstark wird Nachschub verlangt. Diesem Begehren kommen die Gastgeber nach dem Schreck nur zu gern nach, denn ein Streit an der Hochzeitstafel – das schreit doch geradezu nach Unglück in der Ehe.
Indes haben sich die Brautleute zurückgezogen. Eng umschlungen haben sie sich auf Vaters Bank im Prescherchen Garten niedergelassen. Eigentlich wären sie hier ja um diese Tageszeit nicht ungesehen, jedoch ist heute alles anders, denn jedermann ist draußen auf der Gasse und genießt das Hochzeitsmahl.
„Wo warst du denn nun wirklich so lange?“, will Martha drängend wissen. „es hat mindestens eine Stunde gedauert, die du weg warst, wenn nicht noch viel länger.“
Verlegen dreht Ruprecht den Kopf zur Seite, denn es bereitet ihm Unbehagen, an einem Tag wie diesem seine junge Gattin anzulügen. „Frage mich lieber nicht“, bringt er schließlich hervor, „der Mutter Mechthild ging es noch schlechter als eben dem Pfarrer. Sie hatte Halluzinationen und so brachten wir sie nach Hause. Daher wusste meine Mutter auch sofort von den falschen Preiselbeeren.“
„Und geht es ihr jetzt wieder besser?“, will Martha wissen. „Ja, sicher, wir sind mit ihr langsam gelaufen und so konnte sie sich erholen“, lautet die gestotterte Antwort.
Prüfend blickt Martha ihm ins Gesicht. „Warum nur habe ich das Gefühl, dass du mir nicht die Wahrheit sagst? Lass nicht zu, dass ich dieses Gefühl öfter habe, denn dann werde ich Mittel und Wege wissen, die Wahrheit zu erfahren!“
Während er stumm den Kopf schüttelt, kuschelt sie sich an ihn und flüstert: „Lass uns den Tag so richtig genießen!“
STADTSCHREIBERS MÜHE
In breiter Bahn tanzen die tausenden Staubpartikel auf dem durch das weit geöffnete Fenster hereinfallenden Sonnenstrahl und verhindern den neugierigen Blick in die dunklen Ecken der Schreibstube. Auf dem Fensterbrett breitet sich in einem bauchigen Krug ein gewaltiger Strauß bunter Wiesenblumen weit ausladend aus und lädt die Insekten zum Festmahl.
Nachdenklich richtet sich Ruprecht Preschers Blick auf den idyllischen Anblick, während seine Hände mechanisch die Federkiele zurechtschneiden, welche dabei ohne das nötige Augenmerk dennoch exakt in die richtige Form geraten, die ein flüssiges Schreiben erst ermöglicht. Hierbei zeigt sich, dass die Stelle des Schreibers durch genau den rechten Mann besetzt wurde.
Es mag für einen Mann nicht unbedingt das wahrhaftige Merkmal sein, aber Ruprecht liebt Blumen über alle Maßen und so gibt es kaum eine Zeit, wo nicht ein Strauß die Fensterbank ziert. Eine besondere Freude ist ihm dann, wenn die Bienen und Schmetterlinge in der Schreibstube um die bunten Blüten tanzen und damit ihr Oratorium an das Leben darbieten.
Energisch schüttelt er den Kopf, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Es gibt genug Arbeit, die da auf ihn wartet. Vor wenigen Augenblicken