„Das ist nicht zu weit hergeholt“, stimmt der Schulmeister zu, „selbst im ‚Ritter zum Sankt Georg‘ soll zu später Stunde das Bier verdächtig nach Bernsbach schmecken, habe ich sagen hören. Es heißt, der Wirt hätte den Wasserlauf unter seinem Haus extra deswegen angestaut.“
„Nun sitzt ihr wohl den übelsten Verleumdungen auf?“, mischt sich Hans Prescher in das Gespräch. „Unter ehrlichen Chemnitzern ist es nicht üblich, sich zu betrügen, aber um euch zu beruhigen: das Bier ruht schon seit drei Tagen in seinen Fässern bei mir in der Werkstatt und ich habe jedem Fässchen eine gute Probe entnommen.“
Beruhigt prosten sich die Männer zu, während sich Mutter Mechthild ihren Becher aus der Weinkanne füllt. Der vollmundige rote Tropfen von den Hängen der Saale sagt ihr mehr zu als der einheimische Gerstentrunk, der so schnell den Kopf schwer werden lässt. Wie es heißt, soll es bei Meißen auch Weinberge geben, die den Hof des Kurfürsten beliefern, aber von solchem Tropfen zu kosten, war ihr bislang noch nicht vergönnt. Außerdem liebt sie den Gedanken, dass der Wein in ihrem Becher aus den gleichen Landen kommt wie ihre Vorfahren.
Träumerisch schließt sie die Augen und lässt den Schluck über ihre Zunge perlen. Unversehens rücken die Geräusche um sie herum in den Hintergrund, dringen an ihr Ohr nur noch wie durch Watte. Die ganze Gesellschaft erscheint ihr wie von orangem Licht übergossen und plötzlich, gänzlich ohne jeden Laut, führt das Brautpaar alle Gäste aus der Stadt hinüber zum Katzberg, wo sie durch ein großes offenes Tor in der Erde verschwinden. Um das Tor herum aber stehen fremde Söldner in drohender Haltung, vermögen jedoch nicht, ihre Speere zu werfen und so scheinen sie im Schrei der Wut erstarrt. Ein Blick zurück zeigt ihr, dass eine Feuersbrunst die Stadt in Schutt und Asche legt. Erschrocken schreit Mutter Mechthild die Warnung in die unwirkliche Stille: „Gefaaaahr!“
„Was schreist du da, Weib?!“ Urplötzlich sieht sich die Alte wieder inmitten der Hochzeitsgesellschaft den neugierigen Blicken der Gäste ausgesetzt. Der Pfarrer hat mahnend die Hand erhoben und starrt ihr in die Augen. „Ist der Gehörnte in dich gefahren? Was plärrst du da von Gefahr, wo der Anlass des Festes glücklicher nicht sein könnte?!“
Scheinbar demütig senkt Mechthild den Blick. „Entschuldigt, Hochwürden. Es war wohl ein Schluck zu viel, den ich durch meine Kehle rinnen ließ. Ich sah die Tischkante auf mich zukommen und meinte, es sei eines Schwertes Klinge, daher mein Schrei. Entschuldigt einem alten Weib. Ich werde besser auf mein Nachtlager kriechen.“
Auf gar keinen Fall will sie den Schwarzkittel ins Vertrauen ziehen, denn es war kein Traum, sondern eine Erscheinung, die ihr widerfahren ist. Dies aber sollte der Herr Pfarrer besser nicht bemerken, die Folgen wären eine Katastrophe, für sie und all jene, die ihre besonderen Fähigkeiten nutzen. Es wirkt ein wenig mühselig, wie sie sich von der Bank erhebt und die alten Beine über die sperrige Bank zu bringen trachtet.
Der Pfarrer sieht sich noch immer von Misstrauen durchdrungen und so forscht er im Gesicht seiner Nachbarin. Wie trunken wirkt sie nun gerade nicht auf ihn, aber was hat sie zu dem Warnruf getrieben? Dieser Frage will er auf den Grund gehen und so richtet er seine Aufmerksamkeit weiter auf die Alte, die ihm nunmehr den Rücken zukehrt. „Was tischst du mir da für ein Märchen auf? Die drei Schluck in deinem Becher machen keine Fliege wirr.“
Der alte Schlosser Bronnewitz drängt sich an den Pfarrer heran und schniefend lässt er seinen fauligen Atem in dessen Nase dringen, dass der sich ihm unwillig zuwendet. „Was willst du, dass du deinen stinkigen Odem in mein Gesicht bläst?“
Entrüstet nuschelt der Alte: „Wenn das mal eine Art ist, Hochwürden! In meinem Alter riecht man nicht mehr nach Veilchen, sondern eher nach Pisse. Aber deswegen ist man nicht blöd und will auch nicht so behandelt werden.“
„Gegen den Geruch hilft das Wasser hinterm Haus, man muss sich nur waschen. Aber du stinkst aus dem Maul, als verfaultest du innerlich. Vielleicht solltest du öfter mit einem Kräutersud gurgeln. Da weiß die Mechthild bestimmt Abhilfe, wo sie sich mit dem Grünzeug so gut auskennt“, versucht der Pfarrer zu beschwichtigen, doch der alte Schlossermeister ist nicht halb so empört, wie er sich gibt. Weil er in Mechthild etwas Besonderes sieht, er sie als weise Frau schätzt, gilt sein Sinnen, den Kirchenmann abzulenken und so erwidert er: „Das will ich versuchen, Herr Pfarrer, aber damit warte ich lieber bis morgen, habe ich doch die Mechthild vorhin schon im Hause der Brauteltern trinken sehen. So wie sie jetzt drauf ist, gibt sie mir vielleicht Latrinenwasser zum Gurgeln.“ Angeekelt winkt der Pfarrer ab und will sich der Alten zuwenden, aber die hat längst das Weite gesucht und so wandert sein Blick vergebens um das Rund.
Indes hat Mutter Mechthild das Prescherche Anwesen erreicht und eilig durchquert sie den Garten, um durch die Hintertür zu schlüpfen. Im Haus hofft sie, die Mutter des Bräutigams zu finden, denn an der langen Tafel hat sie diese schon geraume Zeit nicht mehr gesehen.
Tatsächlich hört sie Magdalena in der Werkstatt hantieren. „Hallo, ist da jemand?“, macht sie sich bemerkbar. „Magdalena, bist du im Hause?“ Endlich wird sie hereingebeten. „Komm in die Werkstatt, Mutter Mechthild, ich bin am Sortieren, damit nicht der falsche Trunk serviert wird und genug Brot auf dem Tisch steht. Willst du mir helfen?“
„Na gut, ein wenig kann ich dir beistehen, wenn du mir dabei zuhören willst. Es scheint etwas auf uns zuzukommen, was wir nicht steuern können“, nuschelt die Ältere und schlüpft durch die Tür – gar nicht einem alten Weib angemessen.
Erstaunt blickt ihr die Mutter des Bräutigams entgegen. „Um Gottes Willen, Mechthild, du siehst kreidebleich aus! Was ist dir widerfahren? Es scheint mir stark nach Ärger zu riechen. Bist du wieder mit dem Herrn Pfarrer aneinander geraten? Wie oft haben wir dir nahegelegt, diesen Zwist zu meiden. Nicht jeder Pfarrer ist initiiert und das weißt du ganz genau.“
„Nichts davon!“, wehrt die Seherin ab. „Ich hatte gerade eine Vision und kann sie nicht so recht zuordnen. Ich brauche die Unterstützung der anderen Weisen. Können wir uns nicht oben an der Ulme treffen, sagen wir zu Sonnenuntergang?“
Erschrocken richtet sich Magdalena auf. „Bist du wohl ruhig! Willst du die Leute auf uns aufmerksam machen? Wenn das jetzt jemand gehört hat!?“ Hastig nimmt sie einen Topf mit Hirse und lässt die Körner auf dem Boden des Gefäßes durch Schütteln tanzen, dass ein rasselndes Geräusch den Raum füllt und die weiteren Worte der beiden Frauen nicht nach außen dringen. „Nun sag schon, was dich so sehr durcheinander bringt, dass du alle Sicherheitsvorkehrungen unbeachtet lässt? Du bist sonst immer sehr auf deren Einhaltung bedacht.“
Mutter Mechthild hat sich auf dem Bretterstapel an der Wand niedergelassen und atmet schwer. „Du musst entschuldigen, aber die Vision hat mich arg getroffen und auch du wirst durch sie nicht ruhiger werden. Wir müssen uns unbedingt im Kreise der Weisen zusammensetzen, denn ich habe großes Unglück gesehen. Das Brautpaar hat die Stadtbewohner in den Katzberg geführt und fremde Söldner haben das Volk mit ihren Waffen bedroht.“
Wenngleich Mechthild sonst immer die resolutere der zwei Frauen ist, übernimmt jetzt Magdalena die Initiative und gewährt der Älteren den dringend benötigten Halt. „Nun bleib besonnen, Mechthild. Wie besagen unsere Regeln? Welchen Inhaltes auch unsere Visionen sind, erst müssen sie gründlich durchdacht werden, bevor wir in Gefahr geraten, falsche Schlussfolgerungen zu ziehen. Vielleicht steht das Gesehene in Verbindung mit dem späteren Leben der Brautleute? Vielleicht werden sie in ferner Zukunft die Stadt vor einer Katastrophe retten? Wir werden uns also heute Abend zusammenfinden. Gebe den anderen Bescheid, während ich mich weiter um das Fest kümmere.“
Entschlossen schiebt sie die Ältere aus der Tür und wendet sich wieder ihrer Arbeit zu. Eine dicke Sorgenfalte lässt die sonst so freundlich mit lustigen Runzeln verzierte Stirn in zwei bekümmerte Hälften klaffen und die eben noch so flotten Bewegungen sind nun bedächtig und verraten schwere Gedanken im Kopfe der Frau. Hoffentlich droht das Unglück nicht unmittelbar. Vielleicht hat der schwere Wein der Mutter Mechthild einen Streich