Erst im Februar 1864 wurde mir eine in der zweiten Abteilung des Ministeriums erledigte Ratsstelle übertragen, mit welcher die Bearbeitung aller Personalien und die Verwaltung der sogenannten Legationskasse, d. h. des Etats der auswärtigen Angelegenheiten, verknüpft war. Dieses Arbeitsfeld blieb mir bis zum Herbst 1872 anvertraut.
* * *
Anfang November 1863 kehrte Frau von Bismarck aus Reinfeld nach Berlin zurück. Bald darauf wurde die Landtagssession eröffnet. Das vor Kurzem neu gewählte Abgeordnetenhaus brachte zwar statt der früheren 11 konservativen Mitglieder deren 36, zeigte aber im Ganzen dieselbe feindselige Haltung wie das im Sommer aufgelöste.
Trotz der tiefen Trauer der Familie Bismarck pflegten sich doch einige der vertrauten Freunde abends gegen 9 Uhr einzufinden in dem Empfangssaale, welcher auf der Gartenseite des Hauses lag. Die gütige Hausfrau oder deren heranwachsende anmutige Tochter machte den Thee; auf zwei oder drei Tischen standen einfache kalte Speisen, Wein und Bier. Jeder Gast bediente sich nach Belieben. Am häufigsten kamen damals: Herr von Arnim-Kröchlendorff mit Gemahlin und Tochter, Blanckenburg, Graf Eberhard Stolberg mit Gemahlin, der junge Eisendecher14 und Herr von Dewitz-Milzow, ein Göttinger Corpsbruder des Hausherrn. Dieser pflegte gegen elf Uhr auf eine halbe oder ganze Stunde zu erscheinen, um eine satte Speise und ein Glas Bier oder auch dicke Milch zu nehmen. Thee oder Wein genoß er abends nie, um den ohnehin schwer zu findenden Schlaf nicht ganz zu verscheuchen. Die Unterhaltung pflegte er in heiterem Tone zu führen, Politik aber nur selten und flüchtig zu streifen. Ich war in den ersten Wintermonaten der einzige abends im Salon anwesende Beamte des Ministeriums, in jedem Augenblicke amtlicher Aufträge gewärtig.
An der kurzen Nordseite des Gesellschaftszimmers lag ein schmales Kabinett, dessen Länge der Breite des ersteren entsprach und welches immer offen stand, da die Thür aus den Angeln entfernt worden war. Von diesem Kabinett führten zur Linken wenige Stufen hinab in das Schulzimmer, wo die Knaben unter Leitung des Hauslehrers, Kandidaten Braune, zu arbeiten pflegten. Die Thüre dieses Zimmers stand ebenfalls gewöhnlich offen. Wenn nun Schlafenszeit für die Jugend herankam, pflegte die weiche Stimme der Hausfrau in das Kabinett hineinzuschallen: „Jüngchen! Zu Bett!“ Eine ältere Dame hat mich noch kürzlich hieran erinnert.
Auf der rechten Schmalseite des Kabinetts führte eine Thüre zu dem auf der Straßenseite des Hauses gelegenen Arbeitszimmer des Ministers. Wurde abends mein Klavierspiel verlangt, so pflegte Frau von Bismarck diese kleine Thüre leise zu öffnen und, wenn kein Besuch sichtbar war, halb offen stehen zu lassen, da der Minister sich damals nicht ungern durch Töne anregen ließ, während er arbeitete.
Am 23. November sagte er einmal nach Tische, zu seinem Schwager und zu mir gewendet: „Wir brauchten eigentlich zwei Garnituren Regierungsbeamte: eine konservative und eine liberale, von denen eine immer zur Disposition gestellt werden müßte, wenn ein Ministerwechsel eintritt. Die vielen liberalen Beamten können doch jetzt unmöglich mit Freudigkeit und Hingebung ihre Pflicht thun.“
Ich erlaubte mir meine abweichende Ansicht auszuführen, auf deren Inhalt es hier nicht ankommt. Dieses Gespräch erwähne ich nur, weil dessen frische Erinnerung mich einige Tage später zu einem unbesonnenen Schritte gedrängt hat.
9Band II S. 440.
10Das russische Wort „nitschewo“ bedeutet ungefähr: „Das ist mir absolut gleichgültig“.
11Verfasser der „Hellenen im Skythenlande“ (1855).
12Stenographischer Bericht von 1863, S. 243.
13Mit diesem Worte wird außer dem Kollegium der Staatsminister auch diejenige Centralbehörde bezeichnet, deren Geschäftsbereich die allen Staatsministern gemeinsamen Angelegenheiten umfaßt, nämlich Vorbereitung und Registrierung der Sitzungen, Sammlung schriftlicher Gutachten der Staatsminister und die an den Ministerpräsidenten persönlich gerichteten Gesuche.
14Der einzige Sohn des oldenburgischen Bundestagsgesandten von Eisendecher trat in die Marine ein, war von 1862 bis 1872 mit Unterbrechungen in Berlin beschäftigt und wurde fast wie ein Verwandter des Hauses angesehen.
VI.
Zusammengehen mit Oesterreich.
Dänischer Krieg. November 1863 bis Juli 1864.
Nach dem Ableben des Königs Friedrich VII. von Dänemark (15. November) schien mir der Augenblick gekommen, daß den Elb-Herzogtümern endlich zu ihrem Rechte verholfen werden könnte. Nun unternahm aber unsere Regierung gemeinschaftlich mit Oesterreich Schritte, welche die Anerkennung des Königs von Dänemark Christians IX. als Erben von Schleswig-Holstein voraussetzten. Bismarck war in den folgenden Tagen von diplomatischen Geschäften so in Anspruch genommen, daß ich nicht zum Vortrag gelangen konnte. Da er nun kürzlich betont hatte, wie großen Wert er darauf legte, daß die Ueberzeugung der Verwaltungsbeamten mit der ihres Chefs übereinstimmte, so trieb mich mein Gewissen, schriftlich vorzutragen, daß ich der Meinung sei, uns werde eine herrliche Gelegenheit geboten, an die Spitze der gewaltigen Bewegung der Geister in Deutschland dadurch zu treten, daß wir für das Recht des Herzogs von Augustenburg Krieg führten, um die Herzogtümer vom dänischen Joche zu befreien. Wenn ihm diese Ansicht mißfalle, so sei ich bereit, wieder in die Provinz zurückzukehren, und würde dabei keine persönliche Mißempfindung zu überwinden haben.
Diese Gedanken entwickelte ein Schreiben, das ich am Sonnabend, dem 28. November, in das Arbeitszimmer des Ministers tragen ließ.
Am Abend des folgenden Sonntags wurde mein Gruß von der Hausfrau kaum erwidert; ich unterhielt mich daher nur mit einigen Gästen.
Am Montag früh ließ Bismarck mich rufen. Die anderen Minister waren schon zu einer „vertraulichen Besprechung“ mit ihm in dem sogenannten chinesischen Saal versammelt, welcher auf der Straßenseite des Hauses unmittelbar vor seinem Arbeitszimmer lag. Um in dieses einzutreten, mußte ich daher bei den Herren Ministern vorbeigehen.
Er begann mit gedämpfter Stimme, aber in sichtlicher Erregung:
„Sagen Sie ’mal, weshalb haben Sie mir eigentlich diesen Brief geschrieben? Wenn Sie glaubten, auf meine Entschließungen einwirken zu können, so müßte ich sagen, das wäre Ihren Lebensjahren nicht angemessen.
„Es kann ja ganz ehrenvoll sein, für eine gute Sache unterzugehen, aber besser ist es doch, sich so einzurichten, daß man die Möglichkeit hat, zu siegen.
„In der polnischen Sache war das ganze Ministerium gegen mich; man beschwor mich, es anders zu machen, um des Heiles meiner Kinder willen; nachher waren sie alle mit dem Erfolg zufrieden. Jetzt ist die ganze politische Abteilung wieder augustenburgisch; das stört mich nicht. Aber daß Sie, der Sie mich so lange und so gut kennen, denken, ich wäre in diese große Sache hineingegangen wie ein Fähnrich, ohne mir den Weg klarzumachen, den ich vor Gott verantworten kann, das vertrage ich nicht, das hat mir den Schlaf zweier Nächte gestört. Sie zu entlassen, liegt ja gar kein Anlaß vor. Ich habe Ihnen nur zeigen wollen, wie die Kugel sitzt, die Sie mir in die Brust geschossen haben.“
Von den letzten Worten erschüttert, sagte ich sogleich:
„Es ist mir nicht in den Sinn gekommen, daß mein Brief Ihnen wehthun könnte. Bitte, geben Sie ihn mir zurück; es thut mir sehr leid, ihn geschrieben zu haben. Ich bitte von ganzem Herzen um Verzeihung.“
Er gab mir den Brief mit den Worten:
„Danke. Nun ist alles weggewischt und Sie können sicher sein, daß keine unangenehme Erinnerung bei mir „haken“ bleibt. Aber wenn Sie wieder einmal anderer Ansicht sind, so schreiben Sie nicht, sondern reden Sie.“
Ich entfernte mich eilig durch die Mitte der Herren Minister und kam nach kurzer Ueberlegung des Gehörten auf eine Lösung des Rätsels der augenblicklichen Politik: Wenn wir allein gegen den Willen der andern vier Großmächte vorgingen, so konnte dieser Weg zum Untergange führen; handelten wir aber gemeinschaftlich mit einer zweiten Großmacht,