Am 19. Oktober abends kam ich nach Berlin und übernachtete bei dem im Hausministerium angestellten Geheimrat von Loeper, dem hochverdienten Goethe-Herausgeber. Von diesem hörte ich zum ersten Male die Ansicht aussprechen, daß Bismarck trotz mancher unnötigen Schroffheiten seines Auftretens wahrscheinlich sehr viele Jahre lang der Leiter unsrer Politik bleiben werde.
Am 20. früh meldete ich mich beim Ministerpräsidenten im Auswärtigen Amte (Wilhelmstraße 76). Er sagte: „Sie müssen in meiner Nähe wohnen, finden aber in dieser Gegend der Stadt keine mietbaren Räume. Das Staatsministerium steht leer. Ich habe dort im vorigen Jahre einige Wochen gewohnt. Ein Beamter machte mich mit Stolz auf einige neue Tapeten aufmerksam; ich fand aber, daß diese Tapeten an eine Ausspannung in Prenzlau erinnerten. Nehmen Sie sich dort so viele Zimmer, wie Sie brauchen können, meinetwegen alle.“
Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: „Ich denke, Sie sollen einmal einen ‚propren‘ Bundestagsgesandten abgeben.“
Diese Aeußerung erwähne ich nur, weil daraus zu schließen ist, daß Bismarck im Oktober 1863 noch eine langjährige Fortdauer des Bundestages für wahrscheinlich gehalten hat.
Ich bezog sofort zwei Zimmer im Hinterhause des damaligen Staatsministerialgebäudes (Wilhelmstrabe 74), welches nachmals für den Bundesrat und für das Reichsamt des Innern ausgebaut worden ist.
Um 5 Uhr erschien ich nach Bestimmung des Ministers zum Essen mit ihm allein. Seine Gemahlin befand sich noch in Reinfeld in tiefer Trauer um ihre Mutter, welche dort im September gestorben war.
Er sah blaß und müde aus und sagte nach längerer Pause:
„Es kommt mir vor, als wäre ich in diesem einen Jahr um fünfzehn Jahre älter geworden. Die Leute sind doch noch viel dümmer, als ich sie mir gedacht hatte.“
Ich erwiderte: „Sie werden hoffentlich wieder viel jünger werden, sobald es eine große auswärtige Verwickelung gibt.“
Noch an demselben Abende besuchte ich den Geheimrat Hegel, welcher als vortragender Rat im Staatsministerium13 fungierte.
Dieser Schwiegersohn des Staatsministers von Flottwell war mir seit vielen Jahren als ein verehrungswürdiger Mann bekannt. Er sagte: „Die Lage ist fast verzweifelt; unser Chef aber ist ihr vollkommen gewachsen und wird mit Gottes Hilfe obsiegen, wenn auch vielleicht erst nach langer Zeit.“
Als Hilfsarbeiter war damals im Staatsministerium auch der Regierungsrat Zitelmann, hauptsächlich für die Presse, beschäftigt, welcher schon in Frankfurt unter Bismarck gedient und ihn 1863 im Gefolge des Königs nach Karlsbad und Gastein begleitet hatte; ein bescheidener und liebenswürdiger Mann, mit dem ich jedoch nur selten zusammenkam.
Der früher erwähnte Hilfsarbeiter Graf Bismarck-Bohlen war wegen Kränklichkeit auf unbestimmte Zeit beurlaubt, hatte jedoch die Zusage erhalten, wieder einberufen zu werden, wenn es einmal zu einem Kriege käme und sein Vetter mit zu Felde zöge.
Der Minister des Innern, Graf Eulenburg, empfing mich als Ostpreußen mit landsmannschaftlicher Herzlichkeit. Er dankte für meine Empfehlung Hobrechts, den er „ohne meine Hilfe schwerlich durchgebracht hätte“, und sagte dann: „Ihre Stellung bei Bismarck wird sehr schwierig werden, darauf machen Sie sich nur gefaßt. Er ist ein gewaltiger Mensch und duldet keinen Widerspruch. Wer mit ihm zu thun hat, den zwingt er zum Gehorsam, mag man dagegen ‚strampeln‘, soviel man will. Und nun ist Ihnen ja eine besondere Vertrauensstellung zugedacht. Sie werden es sehr schwer haben und ich wünsche von Herzen, daß Sie lange aushalten.“
Am folgenden Tage erhielt ich von Frau von Bismarck aus Reinfeld einen Brief, in dem es hieß:
… „Gott segne Ihren Einzug bei ihm, lieber Herr von Keudell, ich freue mich, daß Sie da sind, wenn auch mit Zittern, und wiederhole stets: Vereinigen und verwechseln Sie nie den Minister mit dem Freunde. Es sind gewiß zwei ganz verschiedene Menschen. Wenn der Minister verstimmt ist und Sie in solch unerquicklicher Laune anbrummt, weiß der Freund nichts davon und liebt Sie ungestört alle Zeit. Ich vergesse nicht mancher Sekretäre Verzweiflung in solchen Fällen; und wenn Sie auch kein so verzagtes Gemüth wie diese Jünglinge besitzen, so möchte ich Sie doch an all dies wieder erinnern mit herzlichen Bitten, in Ihrem Vertrauen und Ihrer Anhänglichkeit nicht zu wanken, da Bismarck deren mehr bedarf wie jeder andere. Er hat ja fast keinen wahren treuen Freund – ich mißtraue ihnen allen –, wenn’s darauf ankommt, lassen sie ihn alle im Stich, bin ich überzeugt. Wer bitte, thun Sie es nicht, halten Sie aus, wenn er auch oft recht unfreundlich scheint. Innerlich ist er’s bestimmt nie, das versichere ich Ihnen.“ …
Geschäftlich wurden mir alle an den Ministerpräsidenten persönlich gerichteten Gesuche zugewiesen. Morgens um zehn Uhr und abends um sieben Uhr hatte ich mich beim Chef zu melden, um die Eingänge in Empfang zu nehmen und die Entwürfe der Antworten vorzulegen, die er dann in meiner Gegenwart erstaunlich schnell durcharbeitete und unterschrieben zurückgab. Keine Sache blieb 24 Stunden unerledigt. Ich stand damals im vierzigsten Lebensjahre und war seit langer Zeit gewohnt gewesen, daß meine Entwürfe amtlicher Schriftstücke von Vorgesetzten fast gar nicht korrigiert wurden; jetzt aber kam ich wieder in die Stellung eines Schülers, dessen Konzepte selten unverändert stehen blieben.
Auffallend war mir die Behandlung der zahlreichen Bettelbriefe. Wenn solche den Eindruck wirklicher Not machten, wurde ich beauftragt, die Bittsteller aufzusuchen und kleine Unterstützungen zu spenden, nicht etwa aus irgendeinem staatlichen Dispositionsfonds, sondern aus den Privatmitteln des Ministers. Einmal mußte ich einer in der Köpenikerstraße 4 Treppen hoch wohnenden Witwe 25 Thaler (75 Mark) überbringen, was mir für die Privatverhältnisse des Gebers sehr hoch gegriffen schien. Ich erlaubte mir abzuraten von dieser dilettantischen Armenpflege, die immer neue unerfüllbare Ansprüche hervorrufen müßte. Die Antwort lautete: „Wer sich in Not bittend an mich wendet, dem helfe ich, soweit ich es mit meinen geringen Mitteln vermag.“
Gelegentlich fragte ich, ob es nicht zweckmäßig sein würde, durch das Bureau nur die wichtigeren Eingänge vorlegen zu lassen. „Nein,“ sagte der Minister, „wenn ich nicht alles sehe, was ankommt, verliere ich die Fühlung mit dem, was im Lande vorgeht.“
Nach mehreren Wochen wurde jedoch infolge der diplomatischen und militärischen Vorbereitungen zum dänischen Kriege die Geschäftslast so groß, daß er die augenscheinlich unwichtigeren Eingänge mit der Bezeichnung O als nicht gelesen an das Bureau gehen ließ und nach deren Erledigung nicht fragte.
Am 30. Oktober schrieb ich meinem Bruder:
„Bismarck ist in Geschäften wirklich wundervoll, von unbegreiflich schnellem Ueberblick und heiterer Entschlossenheit, verlangt aber mitunter Unausführbares, weil nicht alle Verwaltungsgesetze ihm geläufig find. Gestern Abend mußte ich wieder einmal vorstellen, daß dies und das nicht möglich sei. Er wurde wie immer in solchen Fällen ärgerlich und persönlich, ohne aber die Form im Mindesten zu verletzen. In der Nacht grübelte ich darüber, ob ich für sein Naturell den richtigen Ton zu treffen vermöchte, und heute morgen ging ich in etwas gedrückter Stimmung zum Vortrag. Da kam er mir mit besonderer Freundlichkeit entgegen und sagte, er wolle mich nun auch im auswärtigen Dienst beschäftigen und deshalb mit Thile sprechen.“
So geschah es. Der Unterstaatssekretär von Thile war ein kerniger und wohlwollender Mann von ungewöhnlicher wissenschaftlicher Bildung. Er empfing mich in liebenswürdiger Weise, verhehlte mir aber nicht, daß die zurzeit nicht gerade massenhaften Geschäfte der politischen Abteilung in festen Händen seien und daß es schwierig sein würde, dort für mich ein Arbeitsfeld zu schaffen.
Allerdings hätte die außergewöhnliche Arbeitskraft und Arbeitslust des mir seit Jahren wohlbekannten Geheimrat Abeken für sich allein hingereicht, um alles, was damals in der „hohen Politik“ vorkam, zu erledigen; es war aber in dieser Abteilung noch ein zweiter Rat angestellt, welcher doch auch Anspruch