Ich ging zu ihm und erklärte ihm, dass gleich jemand die Besucher durch den Pueblo führen würde. »Wir müssen aber nicht mitmachen, wenn du das nicht willst, wir können auch alleine gehen, ohne die anderen.«
Schließlich erschien ein junger Mann, der sich als Tomaso vorstellte und Student war. Er trug ein schwarzes T-Shirt, knielange schwarze Shorts und staubige Turnschuhe. Sein Haar hatte er im Nacken zu einem Chongo, dem traditionellen langen Knoten der Pueblo-Indianer, gebunden.
»Mah-waan«, sagte Tomaso, »das ist Tiwa, die Sprache der Taos-Leute, und bedeutet: willkommen.«
Vom ersten Moment an hing Kayemo an Tomasos Lippen und so folgten wir dem jungen Fremdenführer auf seiner Tour durch den sonnendurchglühten Pueblo. Ich hatte die Führung schon zweimal mitgemacht, und meine Hoffnung, diesmal vielleicht etwas Neues zu erfahren, wurde enttäuscht. Offenbar gab es für die Fremdenführer eine Art Agenda, die nur das Notwendigste an Informationen preisgab und von der keiner der Fremdenführer abwich.
Stolz erzählte Tomaso, dass Taos Pueblo seit 1992 Weltkulturerbe war. »Heute leben noch etwa hundertfünfzig Menschen hier im alten Pueblo, der nachweislich seit über sechshundert Jahren, möglicherweise aber auch schon seit tausend Jahren bewohnt ist. Als die Coronado-Expedition 1540 vor dem Pueblo stand, sah es nicht viel anders aus als heute. Außer dass es im Erdgeschoss damals noch keine Türen und Fenster gab, weil wir uns vor unseren Feinden, den Navajos und den Apachen, schützen mussten, indem wir in der Nacht oder bei feindlichen Angriffen die Leitern hochzogen.«
Tomaso erzählte, dass es bis heute keinen Strom und kein fließendes Wasser im alten Pueblo gab – eine freie Entscheidung der Bewohner, sich an die Traditionen zu halten und einen Teil des alten Lebens zu bewahren.
Wir folgten dem jungen Indianer auf einem breiten Steg über den Fluss auf die Südseite des Pueblos und dann wieder zurück auf die Plaza. Tomaso führte unsere kleine Truppe zu den drei nördlichen Kivas, kreisrunden, halb unterirdischen Zeremonienräumen, deren Eingänge im Dach von einem palisadenartigen Stangenzaun umgeben waren.
Der Zugang zu den Kivas, in denen die Männer Rat hielten und Stammespolitik betrieben, war für Touristen versperrt, aber ich sah Kayemos sehnsüchtigen Blick. Die Erklärung des jungen Reiseführers über die Bedeutung der Zeremonienräume blieb vage, wie die meisten seiner Ausführungen über die Kultur seines Volkes. Wir erfuhren, dass niemals ein Fremder die Kiva betreten durfte, auch kein Indianer eines anderen Stammes, und dass die Kiva-Riten die bestgehüteten des Pueblos waren.
David hatte mir erzählt, dass die religiöse Welt der Pueblo-Völker aus einem ganzen Kosmos von Ritualen, Tänzen und Zeremonien bestand, die sie streng geheim hielten.
»Sie fragen sich vielleicht, warum wir das tun«, sagte Tomaso, »… keine Fotos von unseren Tänzen zulassen und mit unseren Zeremonien unter die Erde gehen.« Der junge Indianer lächelte nicht, als er sagte: »Aus dem einfachen Grund, weil es sich bewährt hat.«
In das betretene Schweigen hinein erzählte Tomaso vom gemeinsamen Kampf der Taos-Indianer und ihrer Nachbarn, der Quemado, um den Blue Lake, der fast siebzig Jahre gedauert hatte. Der Heilige See lag in den Bergen hinter dem Pueblo und in ihm sahen sie ihren Ursprung – den See des Lebens im Inneren der Welt.
Jedes Jahr im August zogen beide Dörfer mit Sack und Pack, Kindern und Alten in die Berge und an das Ufer des Sees, um dort geheime Zeremonien abzuhalten. Und in all diesen Jahren war niemals ein Fremder Zeuge dieser Zeremonien geworden.
Ich beobachtete Kayemo, wie er lauschte, versuchte, in seinem Mienenspiel etwas zu lesen, das mich später die richtigen Fragen stellen ließ, wenn wir wieder allein waren.
Unsere Tour endete am Friedhof und den Überresten der alten Kirche, die 1847 bei einem Aufstand abgebrannt war.
»Das war unser letzter Versuch, die Spanier noch einmal von unserem Land zu treiben. Da viele von uns bei dem Feuer in der Kirche ihr Leben lassen mussten, wurde sie nie wieder aufgebaut.« Tomaso hob den Kopf und erkundigte sich mit einem warnenden Unterton: »Noch Fragen?«
Eine ältere Dame mit funkelnden Ringen an den Fingern zeigte auf den von Unkraut überwucherten Friedhof mit seinen umgestürzten Kreuzen und wahllos umherliegenden Hölzern. Sie wollte wissen, warum er so verwahrlost war.
»Die Seelen der Toten werden erst frei, wenn die Kreuze von allein umgefallen sind«, erklärte Tomaso. »Unsere Toten sind nicht mehr hier, sondern an einem sicheren Ort. Sie sind mit ihren Ahnen in der Unterwelt vereint.«
Ich erinnerte mich, dass man im Chaco Canyon nur verblüffend wenige Grabstätten der Anasazi gefunden hatte. Dafür Schädel und menschliche Knochen in den Abfallhaufen hinter den Häusern – zusammen mit Tonscherben, Schutt und tierischen Überresten. Vermutlich war das eher pragmatische Verhältnis der Pueblo-Indianer zu ihren Toten ja ein Überbleibsel aus prähistorischen Zeiten.
Kayemo schien auf einmal weit weg zu sein. Er sah aus wie eine finstere Wolke, offensichtlich verstört von dem, was er gerade gehört hatte. Ich wusste, dass hinter seiner Stirn etwas vorging, doch ich hatte keine Ahnung, was es sein könnte.
Tomaso bekam von allen Dollarscheine zugesteckt, auch ich gab einen Zehner. Der junge Fremdenführer bedankte sich höflich und verschwand in einem der Häuser mit blauer Tür. Die Touristen zerstreuten sich und wir waren wieder allein.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich besorgt.
Langsam schien Kayemo wieder ins Hier und Jetzt zu tauchen. Er sah mich an, und ich versuchte, seinen Blick zu ergründen. Vergeblich.
»Ich habe Hunger«, stellte ich fest. »Du auch?«
Heftiges Nicken.
Wir gingen zu einem Haus am Rand der Plaza, an dessen Balken Stränge aus vielfarbigem Mais und Ristras, Zöpfe aus roten Chilischoten hingen. Ich kaufte bei einer freundlichen alten Indianerin zwei Fajitas mit gegrilltem Hühnerfleisch und zwei Eistee, damit setzten wir uns auf die Lehmbank im Schatten der Hauswand.
Kayemo verschlang seine Fajita wie ein Verhungernder, und in diesem Moment wurde mir bewusst, dass er vollkommen von mir abhängig war. Er besaß kein Geld und konnte nicht sprechen. Er war sogar zu schüchtern, um mir mitzuteilen, dass er einen Mordshunger hatte.
»Mehr?«, fragte ich ihn, nachdem der letzte Bissen in seinem Magen verschwunden war.
Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und schien kurz zu überlegen, aber dann schüttelte er den Kopf.
Maras grüne Augen fingen das Licht. Es waren die erstaunlichsten Augen, die er je gesehen hatte, und jetzt blickten sie besorgt. Was würde er ohne sein Fuchsmädchen bloß anfangen?
»Willst du zurück nach Hause?«, fragte Mara, und Kayemo hatte das Gefühl, dass sie ihm nicht nur bis auf die Knochen blicken konnte, sondern auch jeden seiner Gedanken kannte.
Oh ja, er wollte zurück nach Hause. Wenn er nur den Heimweg gewusst hätte.
Er nickte und stand auf. Hielt ein letztes Mal seinen Blick auf die Hügelkette mit dem Capulin Peak hinter dem südlichen Teil des Pueblos gerichtet. Von diesem Berg fühlte er sich magisch angezogen, spürte eine tiefe Verbundenheit, ohne zu wissen, warum.
Als sie beim Verlassen des Pueblos an einer kleinen Galerie vorbeikamen, sah Kayemo im winzigen schiefen Fenster neben der türkisfarbenen Tür eine bunt bemalte Katchina-Figur, die er wiedererkannte. Kein Zweifel: Es war Lightning Man, der Regen-Katchina. Er erstarrte und ein eiskalter Schauer fuhr ihm durchs Herz. Nur wenige wussten, wie der Blitzmann aussah; dass er überhaupt existierte, war ein Geheimnis.
Aber was machte der Katchina dann hier in diesem Fenster, wo jeder, der vorbeikam, ihn sehen konnte?
Kayemo strebte durch die offene Tür in den Laden und Mara folgte ihm. Das Innere des weiß getünchten Raumes wurde durch ein Fenster in der Decke erhellt, im Sonnenlicht tanzten Staubkörnchen.