Wie die Sonne in der Nacht. Antje Babendererde. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Antje Babendererde
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Учебная литература
Год издания: 0
isbn: 9783401807621
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und außerdem brauchst du ein paar Sachen, um in die Berge zu gehen, wenn du übernachten musst.«

      Fragend und voller Unruhe sah er mich an.

      »Na ja, ein paar Lebensmittel, eine Taschenlampe, eine Regenjacke … einen Schlafsack. Wir suchen jetzt alles zusammen, und gleich morgen früh bringe ich dich dorthin zurück, wo ich dich gefunden habe. In Ordnung?«

      Nein, es war nicht in Ordnung, Kayemos Gesicht ließ daran keinen Zweifel. Die Bestürzung in seinen Augen, die bebenden Lippen. Seine Hände begannen zu zittern und er rang sichtlich um Beherrschung.

      »Hey, bleib mal locker!«, sagte ich. »Irgendetwas ist da oben passiert und das hat deine Festplatte gelöscht.« Ich tippte mir an die Schläfe. »Jemand hat auf dich geschossen und du weißt nicht mehr, wer und warum. Vielleicht ist es besser, wir rufen die Polizei. Sie können dich in die Berge begleiten und sich vergewissern, ob mit deiner Mutter und deinem Opa alles in Ordnung ist.« Ich schob ihm den Block zu.

      Kayemo schrieb mit bebenden Fingern:

      es ist Pueblo-Land

      ich muss alleine gehen

      niemand weiß von uns

      »Aber wieso?«

      Zusammengepresste Lippen. Kopfschütteln. Es war zum Verrücktwerden. Aber dann fiel mir wieder ein, was der Reiseführer heute über die Augustzeremonie der Pueblo-Indianer an ihrem Heiligen See erzählt hatte. Vielleicht hatte Kayemos seltsames Verhalten ja mit irgendeiner streng geheimen Zeremonie zu tun.

      »Ich weiß von dir«, bemerkte ich spöttisch. »Musst du mich jetzt töten?«

      Kayemos Gesicht war das reinste Entsetzen und ich bereute meine Frage augenblicklich. Sie war ironisch gemeint gewesen, aber ganz offensichtlich verstand er keine Ironie.

      »Ich habe bloß Spaß gemacht«, sagte ich schnell. »Du bist echt superseltsam.«

      Diesmal konnte ich nicht erraten, was Kayemos Gesichtsausdruck sagte. Seine Augen wurden schwarz wie dunkle Löcher und er schien auf einmal wieder weit weg zu sein. Ein Windstoß fuhr in das Laub der großen Ulme und ferner Donner grollte wie eine unheimliche Drohung.

      »Hey«, sagte ich. »Jemand zu Hause?«

      Kayemo griff nach dem Stift.

      bitte hilf mir

      Ich starrte auf den Block. »Komm mal mit«, sagte ich und stand auf. »Ich will dir etwas zeigen.«

      Kayemo folgte mir ins Haus und stieg hinter mir die Treppen nach oben. Zuerst zögerte er, mein Zimmer zu betreten, aber dann öffnete ich die Tür zum Balkon und er folgte mir hinaus.

      Ich deutete auf die Berge, hinter deren Kuppen sich wie beinahe jeden Nachmittag schwarze Wolken zusammenschoben. »Dort willst du doch hin, oder?«

      Lange Blitze zuckten zur Erde, sogar von Wolke zu Wolke. Ein zweiter, heftiger Windstoß fuhr wie eine Warnung in das Laub der Ulme und der Sträucher im Garten. Kayemos Gesicht verfinsterte sich, seine Hände ballten sich zu Fäusten.

      »Verstehst du, was ich meine? Du kannst nicht einfach so losgehen. Sonst wirst du niemals dort ankommen, wo auch immer du hinwillst.«

      Kayemo starrte auf die schwarzen Wolken und die zuckenden Blitze. Mara hatte recht. Er würde ein paar Dinge brauchen, um in die Berge zu gehen. Und wegen der Wolken würde er heute die Sterne ohnehin nicht sehen. Aber die brauchte er, denn nur sie konnten ihm den Weg nach Hause weisen.

      Außerdem hatte er die vergangenen Nächte kaum geschlafen und war tödlich müde. Also gab er sich geschlagen und nickte. Mara hatte ihm versprochen, ihn am nächsten Tag an besagter Stelle abzusetzen. Und bisher hatte sie ihr Wort immer gehalten.

      »Okay. Ich zeige dir ein paar Sachen, und du lässt mich wissen, was du brauchen kannst?«

      Zuerst führte Mara ihn wieder in die Garage und dann in eine Kammer mit allem möglichen Kram, der sich in Regalen türmte. Schnell hatte er die wichtigsten Dinge beisammen: Draht für Schlingen, eine Taschenlampe mit Ersatzbatterien und ein scharfes Messer. Eine regendichte Plane, einen Schlafsack, einen kleinen Topf und noch ein paar nützliche Kleinigkeiten.

      Dann ging sie mit ihm in die Vorratskammer. Kayemo entschied sich für eine Dose Bohnen, eine Packung Tortillas und ein abgepacktes Maisbrot. Dazu noch zwei Flaschen Wasser.

      Er bedankte sich mit einer Geste und verstaute die Sachen in dem alten blauen Rucksack, den Mara ihm gegeben hatte. Dazu seine gewaschenen Jeans, die im heißen Wind schnell trocken geworden waren, die beiden T-Shirts und das Fleece, das Mara noch in einer der Kleiderkisten gefunden hatte. Die Sachen dufteten frisch wie eine Frühlingswiese in den Bergen. Wie hatte sie das bloß gemacht?

      Später am Abend, längst war es dunkel draußen, aßen sie Sandwiches, die Mara mit Truthahnfleisch belegt hatte. Sie war seltsam in sich gekehrt und schweigsam, und Kayemo vermisste ihre Mädchenstimme mit dem poetischen Akzent.

      Er verstand seine eigenen Gefühle nicht. Maras Nähe machte ihm Angst, weil dann sein Herz zu flattern begann wie ein gefangener Vogel – und doch sehnte er sich danach, ihr nah zu sein. Heute Nachmittag im Garten hatte sie sich über seine Schulter gebeugt und er hatte den Honigduft ihrer Haare einatmen, die Wärme ihrer Haut spüren können.

      Was bedeutete ihr Schweigen? War sie böse auf ihn? War sie traurig? Warum? Weil er sich erinnerte? Weil er nach Hause wollte? Waren alle Mädchen so schwer zu verstehen?

      »Ich gehe mal duschen«, sagte sie schließlich und ließ ihn allein am Tisch sitzen. Kayemo sah Mara nach. Sie war traurig, er spürte es. Und merkwürdigerweise war dieselbe Traurigkeit auch in ihm.

      Er räumte die Teller vom Tisch und spülte sie ab, so wie seine Mom ihm das beigebracht hatte. Er war noch hungrig, hatte Mara aber nicht um mehr bitten wollen. Deshalb warf er einen Blick in den Kühlschrank, in der Hoffnung, noch etwas Essbares zu finden. Dabei entdeckte er die Flasche mit der Milch. Er liebte Milch und hatte lange keine mehr getrunken. Wenn, dann hatte es meist nur Milchpulver gegeben.

      Kayemo schraubte den Verschluss auf, setzte die Flasche an die Lippen und trank einen großen Schluck. Er stutzte und schmeckte. Es war keine Milch, aber was immer es auch war, es hatte einen köstlich süßen und fruchtigen Geschmack, und er war wild auf Süßes, seit er ein kleiner Junge war.

      In langen Zügen leerte Kayemo die halbe Flasche, und erst als er ein seltsames Feuer in seinem Magen spürte, warf er einen Blick auf das Etikett. Piña Colada hieß das Zeug. Er suchte nach den Zutaten. Ananas, Kokosnuss, Rum. Plötzlich begannen die Buchstaben vor seinen Augen zu tanzen und er nahm den Raum nur noch verschwommen wahr. Seine Knie wurden weich und die Möbel schienen zu schwanken. Kayemo beeilte sich, zur Couch zu kommen, auf die er sich plumpsen ließ wie ein Sack voll Maiskörner.

      Er schloss die Augen und wabernde Schwärze umhüllte ihn wie ein Gewebe aus Schatten. Kayemo war der dunklen Energie, die durch seine Adern strömte, hilflos ausgeliefert. Er wurde müde und ließ sich mit angezogenen Beinen auf die Seite sinken.

      Alles drehte sich, er flog durchs Universum, raste an den Sternen vorbei in Richtung Erde. Das Letzte, was Kayemo mitbekam, war, dass Mara kopfschüttelnd eine Decke über ihn breitete.

      5. Juni

      Eine halbe Flasche Piña Colada hat Kayemo völlig umgehauen und nun liegt er auf der Couch, zusammengerollt wie ein kleiner Junge. Vermutlich ist er Alkohol nicht gewöhnt und hat sich unbeabsichtigt die Kante gegeben. Ob er jetzt schlimme Träume hat? Wovon träumt einer in der Nacht, der sich am Tag an nichts erinnern kann?

      Aber das stimmt ja nicht, denn nach und nach erinnert sich Kayemo. Wie es scheint, hat er mit seiner Mutter und seinem Großvater in den Bergen gelebt. Er ist ein begnadeter Zeichner, und die Worte, die er schreibt, sind einfach, aber ohne Fehler. Am liebsten würde ich mich zu ihm legen. Wir haben nur einen einzigen Tag miteinander verbracht und ich weiß kaum etwas von ihm, und doch ist er mir auf seltsame Weise vertraut. Meine Gedanken sind durchdrungen von ihm und dem Geheimnis, das ihn umgibt. War ich schon Teil von alldem, bevor ich ihn am