Die Katchinas waren aus Pappelholz geschnitzt und farbig bemalt. Einige hatten spitze Schnäbel, andere gebleckte Zähne. Es gab Katchinas mit felligen Gesichtern, mit runden oder mit viereckigen Augen und die meisten hatten gefiederte Kopfputze.
Als Kayemo näher an das Regal heranging, trat ein Mann aus einer niedrigen Türöffnung hinter dem Ladentisch. Er war um die dreißig und hatte sein langes Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden.
»Ich bin Mateo, willkommen in meiner Galerie«, sagte er lächelnd. »Schaut euch in Ruhe um! Wenn ihr Fragen habt, vor allem zu den Katchinas, ich beantworte sie gern.«
Es kostete Kayemo unmenschliche Anstrengung, sich nichts anmerken zu lassen, als er auf den Katchina in dem kleinen Fenster zeigte.
»Tut mir leid«, sagte der Mann, »aber der ist alt und nicht verkäuflich.«
Nur wenig erleichtert wandte Kayemo sich um, als sein Blick auf einen Berglöwen aus orangefarbenem Stein fiel, der in einem Wandregal stand. Er war nicht groß und hatte winzige Türkisaugen – ein typischer Fetisch aus dem Zuni Pueblo.
Plötzlich sah er ein Bild – ein Bild von sich und einem Berglöwen, seinem Schutzgeist. Aus seiner Kehle kam ein erstickter Laut, und er stürzte aus dem Laden ins Freie, wo er von der Sonne geblendet stehen blieb, alle Sinne auf Empfang.
Coja, dachte er.
Kayemo legte eine Hand über die Augen und sein Blick wanderte zum wiederholten Mal über die vier Stockwerke des südlichen Pueblos zu den dunklen Flanken der Berge.
Dorthin wollte er.
Irgendwo da oben, wo die Stürme und der Regen geboren wurden, war sein Zuhause. Seine Mom und Grandpa Todito warteten dort auf ihn. Die Bäume, die Felsen, die Tiere und der Himmel warteten auf ihn, genauso wie der Pueblo der Seelen und Lightning Man. Kayemos Magen krampfte sich zusammen. Wieso stand er hier unten in sengender Hitze auf der staubigen Plaza von Taos Pueblo und war nicht dort, wo er hingehörte?
Kayemo hielt den Blick fest auf die Hügelkette gerichtet, spürte den starken Sog, den die dunkel bewaldeten Berghänge auf ihn ausübten. Die Wildnis wollte ihn zurück, die Ewigen Wesen im Pueblo Ánima wollten ihn wiederhaben.
Als sich eine Hand auf seinen Arm legte, erschrak er. Mara sah ihn mit großen Augen fragend an. Die Wärme ihrer Berührung stieg bis in seine Kehle.
»Was ist denn los?«
Mara musste ihm helfen, musste ihn an jenen Ort an der Straße zurückbringen, wo sie ihn gefunden hatte. Von dort konnte er mithilfe der Sterne den Weg nach Hause finden.
Entschlossen lief Kayemo los, raus aus dem Pueblo und geradewegs zum Parkplatz. Dort wartete er neben der Beifahrertür des Pick-ups, bis Mara die Türen entriegelte und er einsteigen konnte. Die Hitze in der Fahrerkabine war unmenschlich. Er musste zurück, so schnell wie möglich. Zurück nach Hause.
Auf der Heimfahrt sagte ich kein Wort. Ich ahnte, dass Kayemos Erinnerung zurückkehrte, aber ihn danach zu fragen musste warten, bis wir zu Hause waren. Wie immer staute sich der Verkehr auf dem Paseo del Pueblo Norte, als wir uns dem Zentrum von Taos näherten. Und dann standen wir an der Ampelkreuzung, die Rotphase schien ewig lang. Ich merkte, wie es in Kayemo arbeitete. In seiner linken Hand hielt er die Bärenskulptur, mit der Rechten strich er gedankenverloren über seine Oberschenkel, vor und zurück, vor und zurück.
Zehn Minuten später parkte ich vor der Garage der Elliots. Kayemo stieg aus, wollte jedoch nicht mit ins Haus kommen. Er verlangte nach Zettel und Stift und verschwand damit im Garten.
Ich ging nach drinnen, um für uns beide etwas zu trinken zu holen. Das Festnetztelefon klingelte und ich nahm ab. Es war Lucia. Ich versuchte, entspannt zu klingen, als ich ihr versicherte, dass alles in Ordnung war und ich ihre Pflanzen regelmäßig goss. Ich erzählte ihr, dass Nils und ich heute im Taos Pueblo gewesen waren und dass wir morgen zu unserer geplanten Tour aufbrechen würden. Lucia wünschte uns viel Spaß. Rosaria ging dran und erzählte mir, dass Paris schön, aber teuer sei und sie als Nächstes nach Lyon fahren wollten, um sich die dortige Kunsthochschule anzusehen.
Erleichtert atmete ich auf, als sie endlich auflegte.
Nachdem ich die Wäsche auf die Wäschespinne gehängt hatte, ging ich noch einmal ins Haus zurück, um die beiden Gläser mit dem Eistee zu holen. Als ich damit in den Garten trat, sah ich, wie Kayemo etwas vom Boden unter der Wäschespinne aufklaubte und in seine Tasche steckte. Er sah ertappt aus, als er mich bemerkte, doch ich fragte nicht, was er da gefunden hatte.
Pilgrim strich nach Futter bettelnd um meine Beine, als ich den Eistee auf dem schmiedeeisernen Gartentisch abstellte. In den Zweigen des Baumes saß Zambo, auch er wartete auf einen Leckerbissen. Also holte ich Futter für beide. Mit befremdlichem Blick sah Kayemo mir dabei zu, wie ich mit dem Kater und dem Raben redete. Was dachte er gerade? Und was hatte er da auf den Block gekritzelt?
Er schob den Block zu mir herüber. Das Blatt war voller kleiner Zeichnungen. Ein Steinhaus, darin ein offensichtlich weibliches Wesen mit langem Haar und ein Mann, auch mit langem Haar, aber im Nacken zusammengenommen. Eine Felsformation, die wie ein heulender Wolf aussah. Ein Bär, winzige Streifenhörnchen, ein Hirsch und ein Berglöwe. Eine verkrüppelte Kiefer, ein Bach und zwei Wasserfälle übereinander. Große und kleine Pferde – Kayemo konnte alles zeichnen, nichts schien ihm zu schwierig. Er war ein begnadeter Zeichner. Die Skizzen der Tiere wirkten so lebendig, als wollten sie jeden Moment aus dem Papier springen.
»Ist das dein Zuhause?«
Er nickte und wies in Richtung Berge.
»Ein Haus in den Bergen?«
Wildes Nicken.
»Und wer sind die?« Ich legte den Zeigefinger auf die beiden Personen in der Hütte.
Mutter, schrieb er und: Großvater.
»Okay. Wenn du mir den Namen des Ortes nennst, aus dem du stammst, dann kann ich dich hinfahren«, schlug ich ganz aufgeregt vor.
Ungeduldiges Kopfschütteln. Unsere Konversation war eindeutig noch ausbaufähig.
»Du weißt den Namen des Ortes nicht?«
Nein. Wusste er nicht.
»Warte, ich bin gleich wieder da.«
Ich eilte nach drinnen und holte die Karte von New Mexico, die David mir für den Roadtrip gegeben hatte. Wenn Kayemo den Namen der Ortschaften in den Bergen las, vielleicht fiel ihm dann wieder ein, wie der Ort hieß, in dem er wohnte.
Ich breitete die Karte vor ihm aus, beugte mich über seine Schulter und zeigte auf Taos. »Hier sind wir und das sind Orte in den Bergen.« Kayemo starrte auf die Karte und schüttelte den Kopf. Mit wildem Mienenspiel und Gesten versuchte er, mir etwas zu erklären. Schließlich riss er das obere Blatt vom Block und schrieb: es gibt keinen Ort und zum Haus führt kein Fahrweg. du musst mich dorthin zurückbringen, wo du mich gefunden hast. dann finde ich den Weg nach Hause
»Lebt ihr so abgeschieden?«
Er nickte.
Mom und Grandpa brauchen mich. bitte bring mich zur Straße
»Du willst heute noch los?«
Heftiges Nicken.
»Und du kennst den Weg zum Haus?«
ich finde ihn
Mist. Bei dem Gedanken, dass Kayemo durch die Salbeiwüste in Richtung Berge ziehen und für immer aus meinem Leben verschwinden würde, zog sich mein Magen zusammen. Ich hatte gerade begonnen, mich an ihn und seine Anwesenheit zu gewöhnen.
»Ist es weit bis zu eurem Haus?«, fragte ich. »Ich meine, von dort, wo ich dich gefunden habe?«
zwei Tage vielleicht
»Zwei Tage? Aber dann