Sie blinzelte. Ihre Lider öffneten sich weiter, Rowilan blickte in ihre von Krankheit und Drogen gezeichneten Augen, bevor diese hauchfein zu glänzen begannen. Dort war sie. Die Erleichterung, die er empfand, hatte keinen Namen. Ganz gleich, ob die Erschöpfung sie wieder in dämmernde Schwärze ziehen wollte. Sie war zurück – und sie erkannte ihn.
Wo nur, bei allen Göttern, steckte Aigonn?
Tautropfen. Aigonn klammerte sich an das Geräusch. Mit aller Gewalt versuchte er, seinen Geist auf die Außenwelt zu konzentrieren, dieses eine, winzige Detail. Es war besser als alle anderen Alternativen. Er durfte nur nicht aufhören, nicht aufhören, durchhalten. Ansonsten würde sein Geist wie zäher Honig dahinfließen, weg von der Wirklichkeit. Er würde verloren sein, das wusste er mit solcher Sicherheit zu sagen, dass es ihn selbst verwunderte. Gab es doch in all dem, das er sehen konnte, keinen einzigen, festen Ankerpunkt.
Irgendwo, in weiter Ferne, gewahrte Aigonn einen dumpfen Schmerz. Sein Geist war zu träge, um weiter zu denken. Was auch immer der Fremde ihm eingeflößt hatte, sein Wille war – so sehr er tobte – nicht im Stande, die Kontrolle über seinen Körper zu gewinnen. So musste sich das Gegenteil von Schweben anfühlen. Aigonn war nicht in der Lage zu sagen, ob er stand, lag, saß. Während rasende Panik in ihm hochkochen wollte, klammerte er sich mit aller Kraft an das kaum hörbare Geräusch. Tropfen.
Die Stimmen waren überall, sie schrien, flehten, versuchten, ihn zu reizen, ohne dass er wusste, wie viel von ihren Worten wirklich ihm selbst galten. Aigonn traute sich nicht, die Augen zu öffnen. Schon einmal hatte das Farbenmeer ihn erschlagen, trotz der blassen Pastelltöne, die ihn überall umgaben, von einem flirrenden Weiß durchtränkt, das nichts Wirkliches mehr an sich hatte.
Aigonn wollte schlafen. Wie gern hätte er sich einfach zurückfallen und seinen Geist in Traumwelten flüchten lassen, doch so sehr er sich bemühte, Ruhe fand er keine. Es war unmöglich. Die Stimmen hallten in seinem Kopf, dass es schmerzte – nicht körperlich, sondern auf eine viel quälendere Art, tief in seinem Geist, der winselnd um Hilfe zu schreien schien. Doch Aigonn war machtlos. Er selbst nahm es kaum wahr, als in der realen Welt eine Gestalt vor ihm in die Hocke ging und ihm so lange gegen die Wange schlug, bis er die Augen öffnete.
Die Farben waren unerträglich. Aigonn wollte augenblicklich die Lider wieder schließen, doch eine Stimme befahl barsch: „Du bleibst wach! Sieh mich an!“
Die Stimme duldete keinen Einspruch, selbst wenn Aigonn ihn hätte geben können. Und als gehörte sie einem Gott, folgte sein Geist ihr willenlos, zwang sich, die Augen offen zu halten, bis er verschwommen zwischen den Geistern und Bildern eine Silhouette ausmachen konnte, die Teil der Menschenwelt war.
„So ist es gut. Kannst du mich gut verstehen?“
„Ja …“
Er hatte die Lippen kaum öffnen können. Seine Stimme schockierte ihn, wie sie kraftlos und lallend in seinem Kopf widerhallte. Der Schreck mischte sich in die Anstrengung, die es Aigonn kostete, seine Aufmerksamkeit auf die fremde Gestalt zu konzentrieren.
„Gut. Dann wirst du nun tun, was du mir schuldest, Aigonn.“ Die Gestalt setzte sich hin. Zwei Hände fassten Aigonns Gesicht, schoben ihm unangenehm die Wangen zusammen, während ungeahnter Schwindel in ihm aufstieg. Übelkeit machte sich in ihm breit. Doch in dem Moment, als er zu würgen begann, verkrallte sich eine Hand vor seinem Mund, drückte seinen Kopf nach hinten, sodass er zu husten begann. Galle verirrte sich in seinen Hals, wollte in den Lungentrakt eindringen. Panisch röchelte Aigonn nach Luft, gab einen jämmerlichen Laut von sich, während die Farben über ihm zusammenschlugen.
Als er endlich wieder Luft holen konnte, spürte er unvermittelt einen Schlag, dann brennenden Schmerz. Hatte man ihn soeben geohrfeigt? Aigonn war einer Ohnmacht nahe. Ein weiteres Klatschen jedoch zwang seinen Geist in den Zustand zurück, der sich sein Bewusstsein nannte. Wimmernd öffnete er die Augen, als abermals sein Gesicht gepackt wurde und nun eine Stimme, weit fort, doch gleichzeitig widerlich nahe, gegen seinen Mund flüsterte: „So leicht entkommst du mir nicht! DU BLEIBST BEI MIR und wirst mir helfen zu tun, was du mir schuldest!“
Speichel benetzte Aigonns Haut. Er vermittelte das Gefühl von zähem Regen, schien sich in eine Sturzflut zu verwandeln, bevor die Stimme weitersprach: „Folge meinen Worten, hörst du mich?“
„Folgen …“
„Folge mir, meinem Geist, sieh für mich das, was meine Sinne niemals erfassen können. Niemand kann es wie du. Mir selbst ist schleierhaft, warum ich es all die Jahre über niemals bemerkt habe. Nun höre …“
Die Worte verwandelten sich in einen rauen Gesang. Aigonn wurde schwindelig, er schien sich zu drehen, zu überschlagen, immer schneller, im Rhythmus, Übelkeit kehrte zurück. Das Lied wollte sich in schallendes Rauschen verwandeln, als er plötzlich hörte: „Befreie dich! Folge mir!“
„FOLGE MIR!“
Aigonn wurde schwerelos. Eine unsichtbare Kraft schleuderte seinen Geist aus dem Körper, trieb ihn nach draußen, in die Dämmerung des Abends hinein. Der Wald lag auf einmal unter ihm, über ihm, es war kaum auszumachen. Die Farben schimmerten wie im Fiebertraum. Aigonn wehrte sich mit aller Kraft, doch als wäre er nur eine Puppe, trieb ihn der Gesang voran, auf das Moor zu.
Weiße Lichtblitze zuckten über den Mooraugen. Aigonn schwankte zwischen Verzweiflung und Faszination, die Welt mit solchen Augen zu sehen. Flüchtig gewahrend, wie zwei nicht erkennbare Gestalten auf dem Heidekraut knieten, schwebte er darüber hinweg, näherte sich einem Strudel aus Licht, der sich lautlos aus einem Moorauge erhob.
Erschrocken versuchte er innezuhalten. Die Andere Welt, man trieb seinen Geist mitten hinein, durch ein Tor, ohne dass ein schützender Geist an seiner Seite war, um ihn zurückzuholen, wenn er den Weg nicht mehr fand. Aigonn versuchte zu schreien, verschloss die Augen, doch die Gewalt des Bildes drang selbst durch seine Lider. Er befand sich nicht mehr in seinem Körper, war nicht mehr Teil dieser Welt. Die so nicht gekannte Hilflosigkeit ließ die Verzweiflung zu zuckenden Flammen werden, während der Gesang ihn immer weiter vorantrieb, auf den Eingang zu, das Tor. Eine Stimme drang durch das ohrenbetäubende Rauschen der Geister und Seelen. „Nun geh und finde sie, finde Moribe! Und finde Haelinon!“
Plötzlich packte Aigonn ein Sog. Alle Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Es war ein Schmerz, für den kein Mensch einen Namen hatte. Aigonn wollte schreien, doch stattdessen verwandelte sich der Laut in Galle, die golden leuchtend von seinem Kinn zu tropfen begann. Seine Hände packten nach allem, das sie hätten fassen können. Doch die Realität war nicht mehr existent, war verschwunden. Panik wurde zu stiller Resignation. Er hätte weinen können, seine Gefühle aber flossen als Lichtströme aus seinem Körper hinaus. Er hatte keine Wahl. Seine Chance war vertan.
Aigonns Hand erschlaffte. Der Schmerz war kaum zu ertragen, als die Lichtblitze seine Beine erfassten, ihn wie einen Strudel nach unten zogen. Sein Widerstand aber zerfloss zu einem letzten, weißen Funken, der in der Wirklichkeit verglühte.
Anation
„Aigonn!“ Anation öffnete so jäh die Augen, dass Schwindel über ihr zusammenschlug, als sie versuchte, sich aufzusetzen und umzusehen. Erstaunt fasste Rowilan ihre Schulter und stützte sie, während die junge Frau sich an den Kopf fasste. Anation musste die Augen wieder schließen, einen Moment innehalten. Doch es war plötzlich eine solche Unruhe in ihr aufgestiegen, dass sie selbst auf den Schamanen überging.
„Ganz ruhig“, redete er auf sie ein. „Aigonn ist nicht hier, ihm ist nichts geschehen!“ Rowilan wusste, dass dies eine Lüge war. Niemand konnte sie ihm beweisen und je länger er ausharrte und darauf wartete, dass dieser junge Mann aus seinem Dorf, der ihm seit Jahren schon das Leben schwer zu machen versuchte, ein Lebenszeichen von sich gab, desto weniger glaubte Rowilan daran, dass er sich vielleicht einfach nur verirrt hatte. Anations Unruhe bestätigte seine