Solange er nicht wartete, bis es zu spät sein würde.
Gut fünfzehn Krieger, zehn Schamanen, dreißig Frauen und Kinder umringten das Moorauge. Fünfundzwanzig gegen acht. Manchmal war Wahnsinn nötig, um Wunder zu bewirken.
„Wir reiten!“
„Reiten?“ Der Krieger war schockiert. Rowilan hatte jedoch nichts anderes erwartet. Seine Gedanken waren für ihn vollkommen nachvollziehbar. Doch sie hatten keine andere Chance.
„Einfach reiten!“ Damit stieß er dem Pferd die Fersen in die Seite. Widerwillig sprengte es vor. In Gedanken dankte der Schamane dem Tier unzählige Male dafür, dass es mit ihm vielleicht in den sicheren Tod ritt.
„HREBILUS!“ Die Menge fuhr herum. Der oberste Schamane blickte erschrocken auf, während Rowilan aus dem Wald galoppierte. „HREBILUS, SIE GEHÖRT MIR!“
Krieger sprangen vor, rissen ihre Lanzen nach vorn. Erste Speere kamen auf Rowilan zugeflogen, während sein Pferd erschrocken auf der Stelle tänzelte. Er hatte nur einen Vorteil. Außer ihm und seinen Männern waren alle anderen zu Fuß.
Damit setzte sein Pferd zum Sprung an. Ungeachtet der Waffen, die man ihm entgegenschleuderte, sprengte es durch die Menge, trampelte nieder, wer ihm im Weg stand.
Der Schreck hatte gewirkt. Es dauerte mehrere Herzschläge, bis die schockierte Menge wieder reagierte. Immer mehr Lanzen surrten auf ihn zu. Rowilan spürte das Metall mehr als ein Mal keine Handbreit an seinem Körper vorbeifliegen, doch er zwang sich dazu, weiterzureiten. Das Pferd hatte beinahe den Bohlenweg erreicht. Er lenkte es in Haken, im Zickzack. Trotz allem dauerte es keine drei Atemzüge, bis es erschrocken aufwieherte, stolperte und getroffen zu Boden ging.
Rowilan hatte gerade noch Zeit, schützend die Hände vor sein Gesicht zu halten, bevor er aufschlug, sich abrollte. Als er taumelnd wieder auf die Beine kam, traf ihn ein Tritt in den Unterleib. Keuchend ging er in die Knie, wich aus, konnte gerade noch den Schamanen beim Arm packen, bevor dieser ihm seinen Dolch in die Seite stoßen konnte. Es knackte, der Mann schrie auf. Rowilan stieß den Schamanen von sich, wich einem anderen aus, bevor er den Bohlenweg entlangrannte. Im Augenwinkel sah er, wie seine Männer schreiend in die Menge ritten und versuchten, die Krieger abzulenken, während Rowilan sich vorankämpfte. Er dankte ihnen in Gedanken. Ihr Opfer war groß. Sie waren sich dessen bewusst gewesen. Ihr Geschenk konnte nicht vergolten werden.
Hrebilus, der höchste Schamane der Eichenleute, hatte Anation an sich gerissen. Seine verbliebenen Gehilfen hatten sich schützend vor ihn gestellt. Ihre gezückten Schwerter und Dolche hätten für sie von großem Nutzen sein können. Rowilan wusste jedoch, dass junge Männer wie sie, noch keine siebzehn Jahre alt, sie nur ungenügend einzusetzen wussten. Lediglich Khomal hielt sein Schwert zum Schlag bereit. Der Körper des Fürsten schien zum Schutzschild zwischen den Eingeweihten und dem Eindringling geworden, ihre Rücken von den Geistern geschützt, deren Ritual soeben unterbrochen worden war.
Hrebilus hielt Anation seinen Dolch an die Kehle gepresst. Der rote Ocker klebte an seinen Händen, war auf seinem Arm verschmiert. Rowilan spürte seine Nervosität, als er schrie: „Bleib stehen oder ihre Seele wird verloren sein!“
Anation hing wie leblos in seinem Griff. Rowilan konnte sehen, wie ihre Lider flackerten, die Mundwinkel zuckten, doch ihr Geist hatte nicht genügend Gewalt über ihren Körper, um sich selbst zur Wehr zu setzen.
Keuchend fiel Rowilan in den Schritt. Ein sarkastisches Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er erwiderte: „Glaubst du wirklich, sie wird verloren sein, nur weil du sie tötest und verfluchst? Nicht du! Es gibt mächtigere, viel mächtigere Menschen als dich, sie wird gerettet werden und Rache an dir nehmen. Viel schrecklichere Rache, als deine Drohungen wahrmachen können!“
Ohne Khomal und die Schamanen zu beachten, trat Rowilan vor. Der Fürst gab den jungen Eingeweihten ein Zeichen, beiseite zu schreiten. Rowilan hörte, wie andere Krieger ihm von hinten den Weg abschnitten. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Vor ihm waren der Fürst der Eichenleute und das Moor. Selbst wenn er Anation befreien konnte, wohin sollte er fliehen? Das Moorauge würde ihn und die junge Frau in die Tiefe reißen, in die Andere Welt. Wenigstens würden ihre Seelen nicht ziellos zwischen dem Jenseits und der Heimat der Menschen umherirren, weil niemand ihnen den Weg weisen konnte, niemand ihre Leichen gefunden hatte. Es war ein schwacher Trost dafür, dass der Schamane aus einem Grund, der ihm nicht vollkommen klar war, ziemlich sicher sein Leben opfern würde. Er selbst war ebenso Krieger wie die anderen Bärenjäger, doch vor allen Dingen war er ein eingeweihter Mann, ein Kundiger der Geister und Kräfte dieser Welt. Khomal war ein Fürst, hatte bereits als Kind das Kämpfen gelernt. Was hatte Rowilan schon für eine Chance?
Als die übrigen Krieger ihm den Fluchtweg abgeschnitten hatten, blieb Khomal mit etwa sieben Fuß Abstand vor Rowilan stehen. Der Schamane selbst gewahrte Hrebilus nur kurz, Anation unverändert in seinem Griff. Eine Gestalt kauerte unbeachtet neben ihm auf dem Boden, doch Rowilan hatte nicht den Sinn, sich darauf zu konzentrieren. Der Bohlenweg war nur gut viereinhalb Fuß breit – wenig Platz für einen ausgeglichenen Kampf. Ein geübter Krieger gegen einen Meister. Die Götter allein würden Rowilan retten müssen!
Plötzlich riss der Eichenfürst sein Schwert in die Höhe und stieß vor. Überrascht sprang Rowilan beiseite, näherte sich gefährlich der Kante der Bohlen. Khomal wirbelte herum, setzte zu einem Schlag an. Rowilan blockte mit seinem eigenen Schwert, fing den Schlag ab, geriet jedoch ins Straucheln. Mit einem Schrei gelang es ihm, die Klinge von sich zu drücken und einen Schritt auf die Bohlen hinaus zu machen – Hrebilus und die übrigen Schamanen nun im Rücken.
Kreischend schabte Eisen über Eisen. Khomal riss das Schwert zurück, machte einen Schritt seitwärts. Rowilan sprang zurück, holte selbst zum Schlag aus.
Der Schmerz brannte in Rowilan auf wie eine Flamme. Für Herzschläge wurde es dem Schamanen schwarz vor Augen. Mit aller Gewalt kämpfte er gegen den Schwindel, konnte gerade noch zurückweichen, bevor das Schwert des Fürsten durch sein Fleisch bis in die Lunge schlagen konnte.
Heißes Blut rann aus seiner Seite über die Rippen. Er hatte kaum genug Zeit, neue Besinnung zu fassen, als ein zweiter Schlag auf ihn zuraste. Taumelnd versuchte er auszuweichen, stieß schützend sein Schwert vor, traf. Die Wucht des Schlages jedoch riss Rowilan von den Füßen.
Mit bebendem Atem gewahrte er noch seine eigene Situation, als er bereits Khomals Klinge an der Kehle spürte. Der Eichenfürst stand tief atmend über ihm, einen abschätzigen Ausdruck in den Augen, als er sagte: „Mutig bist du, Schamane. Aber das allein nützt dir nichts.“
Rowilan spürte Blut, als sich die Spitze fein in sein Fleisch bohrte. Von fern her konnte er Schreie hören, die aufgeregten Rufe der Eichenkrieger, die seine Männer in die Knie gezwungen hatten. Er brauchte es nicht zu sehen, sein Gefühl allein sagte genug. Es erschien ihm fast tröstend, dass Deronas Geist noch immer an seiner Seite war, harrte und wartete, bis er ihr in die Andere Welt folgen würde. Sehr bald schon.
„Wie es scheint, wirst du dem Mädchen und deinem Fürst ins Moor folgen können. Schätze dich glücklich!“
Seinem Fürst? Überrascht weiteten sich Rowilans Augen. Er glaubte bereits, sich verhört zu haben, doch schneller, als er darüber nachdenken konnte, hörte er plötzlich einen Schrei.
Ein dumpfer Aufschlag, ein Sturz, ein Moment der Unachtsamkeit. Ohne zu denken stieß Rowilan die Klinge beiseite, drehte sich herum