„Täusche dich nicht darin!“
Unwillkürlich fuhr Aigonn herum. Die Stimme ließ ihn erschauern, mehr noch. Sie hatte nichts Menschliches an sich, nichts, das er von den Geistern kannte. Sie war etwas Größeres, Älteres, das ihn ohne zu denken auf die Knie sinken ließ. Noch bevor er begriff, was soeben geschah, riss vor ihm die Erde auf. Gleißendes Licht flutete die Welt, brach wie Nebelschwaden aus dem Boden. Aigonn konnte nicht atmen, er brauchte es nicht. Die Macht, die auf ihn einströmte, machte unnötig, was seinen menschlichen Körper am Leben erhalten hatte. Tränen rannen ihm aus den Augen. Es war kaum zu ertragen, er konnte nicht hinsehen. Die Luft vibrierte. In dem Moment, als Aigonn glaubte, in dieser ursprünglichen, uralten Macht zu zerfließen, bäumte das Licht sich auf, bündelte sich, bis es Gestalt annahm. Eine Gestalt, die seine Gedanken zum Stocken brachte.
„Das ist es.“ Anations Stimme war nur noch ein Flüstern. Rowilan hätte beinahe geglaubt, die junge Frau wäre auf seinem Arm eingeschlafen, doch als sie sich in diesem Moment aufrichtete, schien sie wacher, als ihr Körper es zulassen wollte. Das konnte der Schamane spüren. Die Schatten der Nacht hatten sich über den Wald gesenkt. Samtene Schwärze verschluckte alle Konturen, ließ nur an wenigen Stellen undeutliche Silhouetten zurück, sodass es Rowilan schien, als hätte Anation ihn auch zu irgendeinem unbestimmten Baum führen können. Erkennen konnte er ohnehin nichts. Es war Neumond. Wie blind musste der Schamane sich vortasten, bis er in der Dunkelheit eine Felsformation ausmachen konnte, die sich finster von den nachtschwarzen Schatten abhob.
„Wo sind wir?“, fragte er. Anation glitt vorsichtig aus seinen Armen, schwankte kurz, dann antwortete sie: „Ich weiß es nicht genau. Es liegt ein Hauch über diesem Ort, der an eine Grabstätte erinnert, lauter zurückgelassene Erinnerungen aus alten Generationen. Ich bräuchte Aigonns Hilfe, um dir Näheres sagen zu können.“
Aigonns Name brachte die Anspannung zurück, die Rowilan für einen kurzen Moment hatte verdrängen können. „Hat sich etwas getan, verändert?“
„Nein. Der, der ihn kontrolliert, wartet. Aigonn hat das Tor durchquert.“ Mit diesen letzten Worten stockte ihm der Atem. Ein Tor zur Anderen Welt! Aigonn war gezwungen worden, eines der ältesten Gesetze ihrer Welt zu brechen. In Gedanken hatte er gehofft, Aigonn hätte es vielleicht gar nicht durchqueren können. Doch geahnt hatte er die Wahrheit auf eine Weise – und sie verriet ihm die Dringlichkeit, so schnell wie möglich etwas zu unternehmen.
„Was ist nun?“, sagte er dann. „Gibt es einen Eingang?“
„Warte!“
Unsicheren Schrittes ging Anation vor, suchte sich einen Weg zwischen Bäumen und Sträuchern hindurch, bis ihre Hände kalten Fels ertasten konnten. Ihre Gedanken überschlugen sich. Die Stimme in ihrem Innersten brüllte, schrie ihr einen Weg zu, dessen Bruchteile sie jedoch nicht schnell genug erfassen konnte.
Das dünne Band, das Aigonns Seele mit seinem Körper verbunden hielt, spürte sie so deutlich wie ihren eigenen Herzschlag. Es flackerte wie ein dünner Lichtstrahl durch die Materie, den Fels, einer Fackel gleich, der sie folgen konnte. Hätten ihre Sinne wieder volle Stärke erreicht, würde sie augenblicklich ihre eigene Seele vom Körper lösen, Aigonn folgen, Fels und Gestein zurücklassen und diesen Unbekannten außer Gefecht setzen. Im Stande dazu war sie, das wusste sie. Es war eine der wenigen Gewissheiten, die ihr aus dem letzten Leben geblieben waren, doch die Betäubung der Drogen lähmte ihren Geist zu schwer, machten sie unfähig, die nötige Zielstrebigkeit zu erreichen, um sich nicht selbst zu verlieren.
Vor diesem Hintergrund blieb ihr keine andere Wahl. Vorsichtig tastete sie sich die Steinwand entlang. Mit jedem Moment, da sie Aigonns pulsierenden Herzschlag durch seinen Lebensfaden spüren konnte, den Rhythmus, der sich immer weiter verlangsamte, an Kraft verlor, loderte Panik in ihr auf. Ihre Konzentration ließ nach. Sie hätte am liebsten den gesamten Felsen in Stücke gehauen, bis sie auf einmal in der Dunkelheit einen winzigen Lichtfunken ausmachen konnte.
Licht. Irgendwo brannte ein Feuer. Anation ging in die Knie, verlor dabei beinahe das Gleichgewicht, doch dieser Umstand wurde zur Nebensache, als sie durch einen dünnen Felsspalt den Schein eines Lagerfeuers schimmern sah.
„Rowilan!“, zischte sie. Ihre Finger tasteten sich vor. Feuchte, aufgeriebene Erde offenbarte Schleifspuren, die nur von einem größeren Körper herrühren konnten. Sie machte sich nicht die Mühe, nach möglichen Tierhaaren zu suchen, die auf Jagdbeute hingedeutet hätten. Anation wusste mit Sicherheit, was dort unten geschah, und es brannte in ihr, sich endlich hinabzustürzen und dem ein Ende zu bereiten! Doch eine solche Reaktion konnte alles gefährden. Die junge Frau wartete also, bis der Schamane an ihre Seite gehetzt war, beugte sich ein wenig tiefer, um den Durchgang hinter dem Spalt ausmachen zu können, der schmal und kegelförmig in den Boden hinein verlief. Der Stein und die dazugehörige Höhle mussten tief unter der Erde entstanden sein. Ein heiliger Ort seit Generationen. Anation konnte es spüren. Der Geruch nach feuchtem Basalt versprach rutschigen Untergrund. Vorsichtig streckte sie die Hand aus, um Halt zu suchen.
Plötzlich wurde Anation schwarz vor Augen. Erinnerungen schlugen mit einer solchen Wucht auf sie ein, dass Schwindel sie zu Boden streckte. Rowilans erschrockenes Zischen verlor sich in einem Bilderrausch, der kaum zu ertragen, geschweige denn zu erfassen war. Szenen, Schamanen, Kinder, ein alternder Mann an der Seite dreier junger Männer. Für Anation war es unmöglich, ihre Bedeutung zu ermitteln. Doch als ihr Geist sich in die Wirklichkeit rettete, blieb ein Gefühl zurück, das kalten Schrecken in ihr beschwor. Kein Schrecken vor einer Situation oder vor der Gefahr. Es war die Angst einer Gewissheit, die ihr in diesem Moment begreiflich wurde – untergründig. Auf einmal hing ein Name in der Luft. Mein Name.
„Ist alles in Ordnung?“ Rowilan starrte schockiert zu seiner Gefährtin hinab, die Hände auf ihre Schultern gelegt, als könnte der Boden sich mit jedem Moment auftun und sie ihm entreißen. Anation jedoch sah ihn kaum an, antwortete nicht. Ohne ein Wort ließ sie sich durch den Felsspalt gleiten, während ihre Augen sich an das Zwielicht der Flammen gewöhnten.
Wahrlich, es war eine Höhle. Bräunliches Gestein schimmerte feucht von allen Seiten. Menschenhände hatten vor Generationen, Jahrhunderten, mit einfachsten Werkzeugen schemenhafte Bilder in die Wände getrieben, die junge Frau aber hatte keinen Blick dafür.
Die Gewissheit hing über ihr wie ein Richtschwert. Erinnerungen sammelten sich unter der Decke, bildeten einen Lufthauch, der wie der Atem vergangener Tage den schmalen Gang entlangglitt. Ihre Erinnerungen. Anation begann zu rennen. Ohne Rowilan zu beachten, hetzte sie mit letzter Kraft um eine Biegung, geriet auf dem feuchten Boden ins Straucheln, bis sie in einer größeren Öffnung zum Stehen kam.
Eine niedrige Grotte hatte sich im Laufe der Jahre in den Fels gefressen. Das Feuer, das sie erhellte, war auf dicken Holzscheiten als Dämmung gegen die Nässe entfacht. Fußabdrücke zeichneten sich in den Dreck des Bodens. Rußflecken an der Decke verrieten, dass dieser Ort regelmäßig aufgesucht wurde. Man hatte an den Wänden Felle und Proviant gelagert, Schalen, Töpfchen. Anation aber nahm dies alles nicht wahr. Wie versteinert starrte sie auf die beiden Personen in der Mitte der Grotte: Aigonn, entrückt und kraftlos auf einer Lederdecke an einen Felsen gelehnt. Sein Anblick hätte sie schockieren müssen, mit Zorn erfüllen. Doch die Gestalt, die vor ihm auf dem Boden kniete, die Hände um sein Gesicht gelegt, machte alles vergessen, das sie hierher geführt hatte.
„Bei den Göttern!“ Rowilan erschien neben Anation im Durchgang. Er wechselte keinen Blick mit ihr, bevor seine Miene erstarrte, sich Sorge in Fassungslosigkeit verwandelte. Unvermittelt packte seine Hand den Fels, um Stütze zu suchen. Seine Knie wurden weich, als er in die Grotte hinaussah, neben Aigonn einen Mann erblickte, den er immer zu kennen geglaubt hatte – sogar noch viel mehr als das. Er glaubte es nicht, es konnte nicht wahr sein, durfte nicht … Hatte er sich so täuschen lassen können?
Der Schamane wirbelte herum und suchte Halt an der gegenüberliegenden Wand.
„Das kann nicht sein.“ Der Stein ließ sein Flüstern widerhallen. „ES DARF EINFACH NICHT WAHR SEIN!“
In