Dort war sie wieder, die Verzweiflung. Sie verlieh dieser fremden Welt etwas schrecklich Vertrautes, während Aigonn sich nach allen Seiten umsah, irgendeinen Anhaltspunkt dafür suchte, dass es hier überhaupt etwas gab außer dem Licht. Er würde nie wieder zurückkehren können. Tot, aber doch nicht tot. Unzugehörig, egal, wo er sich befand. Eine ferne Erinnerung hielt ihm die Erzählung über Menschen vor Augen, deren Geister zwischen den Welten verloren gingen. Irgendwann starb der Körper. Man konnte versuchen, ihn am Leben zu erhalten, doch nicht für ewig. Die Andere Welt raubte einem Menschen die Erinnerungen an sein früheres Leben, manche nur, nie alle, doch oft genügte es, damit derjenige, der seinen Körper verlassen hatte, den Weg nicht zurückfand.
Verloren. Bis das Ende dieser Welt kommen würde, damit sie wiedergeboren werden konnten.
Auf einmal war eine Regung im Nichts auszumachen. Aigonn wirbelte herum, konnte erst nichts erkennen, bis er die Konturen einer Gestalt zu fassen bekam, eine Silhouette, vielleicht noch weniger. Jedoch spürte er ihre Aufmerksamkeit voll auf sich gerichtet – für einen Herzschlag. Dann verblasste sie wieder, doch dort, wohin sie ihre unsichtbaren Schritte setzte, erschien plötzlich aus der Leere ein unregelmäßiger Streifen Gras.
Aigonns Gedanken überschlugen sich. So schnell er konnte, folgte er der Silhouette, fand das Gras, das sich wie eine Spur hinter ihr herzog und erschauerte unwillkürlich, als er den Fuß darauf setzte. Dies war eine Erinnerung. Die Erinnerung, die eine Seele behalten hatte, bevor sie den Weg in die Andere Welt gefunden hatte.
Sie reagierte nicht, als Aigonn ihr folgte. Auf einmal aber, als er den Blick in die Höhe hob, sah er andere Gestalten, viele mehr, jede von einer Spur eigener Erinnerungen umgeben. Aigonn schwankte zwischen Schreck und Faszination. Er konnte spüren, dass dies nicht die Heimat der Naturgeister war, die den Menschen nur an den höchsten Feiertagen erschienen, wenn die Grenze zwischen den Welten dünn war. Dies war die Welt der Toten, ihre allein. Alles schien ein Schatten der Menschenwelt zu sein, vertraut, aber doch weit entfernt.
Er konnte nicht sagen, wie lange er lief. Irgendwann tauchte unabhängig von den Seelen ein Hintergrund auf, eine Welt, Bäume, Wälder, Flüsse, der Erde ähnlich, doch auf eine gewisse Weise so anders, dass es Aigonn unheimlich wurde. Die Erinnerungen der Toten hinterließen vertraute, unzugehörige Flecken in diesem Bild. Je länger er weiterlief, desto mehr konnte er einen strahlenden Himmel ausmachen, nicht blau, nicht gelb, nicht weiß, von keiner Wolke verdeckt, sondern nur von einem überirdischen Glühen durchzogen, das älter war als die Zeit. Er konnte es spüren, ohne es zu wissen. Dies war die Dimension, die vor ihrer eigenen bestanden hatte, jedoch mit der Welt der Menschen unwiderruflich verbunden war. Würde die eine untergehen, würde die Andere folgen, das hatten die Schamanen sie schon als Kinder gelehrt.
Die fremdartige Schönheit raubte Aigonn den Atem. Sein Geist war nicht in der Lage, die vielen unterschiedlichen Sinneseindrücke zu verarbeiten. Wollte er diese Welt wirklich verlassen? Wollte er fort von hier? Zu gern hätte er sich einfach niedergelassen, die Welt der Menschen vergessen. Was machte es, dass ein Fremder ihm den Ausgang versperrte? Vielleicht sollte er sich einfach hinsetzen und warten, bis sein Körper starb?
Dieser Gedanke wurde plötzlich zur gewaltigen Verlockung. Den Tod erwarten. Ja, warum sollte er zurückkehren? Was gab es dort zu finden? Sein altes Leben erschien ihm plötzlich ungeheuer weit entfernt, schattenhaft – auch wenn er alle Erinnerungen mit sich genommen hatte. Würde er sie mit in sein nächstes Leben nehmen? Es war ein faszinierender Gedanke, er entglitt ihm jedoch, als er die unbeschreibliche Ruhe spürte, die dieser Welt anhaftete. Er hatte sich nur ins Gras sinken lassen, die Arme nach hinten abgestützt. Und in diesem Moment überfiel ihn eine Müdigkeit, als müsste er so lange schlafen, bis die Wunden seines alten Lebens verheilt waren.
Schlafen … Seine Augen flackerten. Er ließ sich nach hinten sinken, tiefer ins Gras, die Lider geschlossen. Der letzte Funke Licht drang an seinen Geist.
„Aigonn!“ Die erstaunte Stimme ließ ihn auffahren. Erinnerungen hallten nach, schrien auf, eine unaussprechliche Hoffnung entflammte und entzündete ein Gefühl ohne Namen, als er die Augen aufschlug.
„Mutter.“ Er wollte seinem Blick nicht trauen, nicht glauben, was er sah. Langsam stand er auf, so vorsichtig, als könnte sie mit jeder Bewegung wieder verschwinden. Doch sie blieb, einen Ausdruck zwischen Fassungslosigkeit, Freude und Entsetzen in ihrem Gesicht, das so klar und schön war, wie er es nur aus seinen Erinnerungen kannte. Dies war sie, die Frau, die ihn geboren hatte; die, die sie gewesen war, bevor die Schatten sie zu sich geholt und ihren Geist abgeschirmt hatten. Seine Mutter. Tränen stiegen Aigonn in die Augen. Er fühlte sich wieder wie ein Kind, wie ein Fünfjähriger. Ohne nachzudenken fiel er ihr in die Arme, umschlang sie, sog ihren Duft ein, um ihn nie wieder missen, nie wieder vergessen zu müssen.
„Mutter, du hast mich gefunden …“ Er konnte die Tränen nicht halten. Die Außenwelt verlor ihre Bedeutung. Aigonn bemerkte kaum, wie sie ihn mit zärtlicher Gewalt von sich schob und halb erschrocken, halb freudig sagte: „Aigonn, was tust du hier? Was hast du getan? Du bist noch am Leben!“
„Nicht mehr lange, es ist egal. Ich bleibe, ich gehe nicht zurück!“
„Aigonn!“ Ihre Hände hielten seine Oberarme umschlungen und schüttelten ihn sanft, jedoch mit einem Nachdruck, der einen faden Geschmack in seinem Mund aufkommen ließ.
Ihre Augen duldeten keine Ausflüchte, als sie ihre Frage wiederholte: „Aigonn, was – hast – du – getan? Dass du hier bist, bricht ein uraltes Gesetz der Götter, der Welt, des Seins. Du hättest das Tor gar nicht durchschreiten können dürfen. Was ist geschehen?“
Die Wirklichkeit, weit entfernt in der Welt der Menschen, holte ihn ein. „Ich bin gezwungen worden. Ein Fremder hat mich betäubt, ich weiß nicht womit, aber er konnte meinen Geist ohne Gegenwehr dazu bringen, das Tor zu durchqueren. Doch das ist jetzt egal! Ich brauche nicht zurück, erst recht nicht, wenn er mich zwingen will, hier jemanden zu finden, bevor er mich heimkehren lässt!“
„Was sagst du? Wen sollst du finden?“
„Dich. Und Haelinon.“ Haelinon …, Haelinon, der Name klang nach, wieder und wieder in seinem Kopf. Aigonn war sich bewusst, dass er wusste, um wen es sich handelte. Doch die Erinnerung war zu weit entfernt, um sie zu greifen. „Ich soll euch beide zu diesem Fremden bringen, warum auch immer.“
„Oh Götter!“ Moribe schlug sich eine Hand vor den Mund. „Ich hätte niemals geglaubt, dass er bei dir wagen würde, was er schon Derona angetan hat! Sie hat ihm furchtbare Rache geschworen!“
„Derona!“ Aigonn horchte auf. „Wo ist sie? Ist sie hier in der Nähe?“
Seine Mutter schüttelte den Kopf. „Nein. Sie war nie lange hier. Kurz nach ihrem Tod ist sie in die Welt der Menschen zurückgekehrt. Sie war immer an unserer Seite, an meiner, deiner. Immer nahe. Ich weiß nicht, ob du es gespürt hast. Ich habe es. Sie wollte Gerechtigkeit, wie sie es nannte. Ich nenne es Rache. Rache, die ich ihr nicht geben konnte. Ich glaube fast, der Zorn, der sie geleitet hat, hat sich irgendwann ihrer Kontrolle entzogen. Es tut mir so leid, Aigonn! So unendlich leid! Du musst mir glauben, dass ich euch niemals im Stich lassen wollte. Ein menschlicher Körper und die Zustandsform seines Geistes sind schwächer als man glaubt – zumindest bei jemandem wie mir. Ich hätte dich beschützen müssen, erst recht jetzt. Du musst zurück!“
„Nein.“ Nun schüttelte er den Kopf, energischer als Moribe zuvor. „Nein, ich gehe nicht zurück. Ich bleibe bei dir! Die anderen brauchen mich nicht; sie werden ohne mich zurechtkommen.“
„Aber die Frau, Anation …“
„Sie ist stark. Sie braucht meine Hilfe nicht.“
„Sie ist auch wegen dir zurückgekommen!“
Diese Worte ließen Aigonn innehalten. In seinem Kopf arbeitete es. Ein Drängen, vielleicht seine Vernunft, begann seiner Mutter Recht zu geben. Sein Willen aber sträubte sich dagegen mit aller Kraft. Du brauchst nicht zurück, bleib einfach hier, warte, bis dein Körper gestorben ist. Dann ist es für eine Rückkehr zu spät!