Auf einmal hörte Aigonn sein Herz in den Ohren schlagen. Er wusste, wenn Rowilan ihn nun allein in der Dunkelheit mit der vermeintlichen Lhenia entdeckte, würde er nicht eher Ruhe geben, bis er wissen würde, welches Geheimnis sie beide teilten. Dabei gab es nichts Verwerfliches an dieser Wahrheit. Auch nichts Gefährliches – so hoffte er es zumindest.
So unauffällig wie möglich folgte Aigonn dem Weg, den die junge Frau genommen hatte. Erst als er vollends in die Schatten eingetaucht war, beruhigte sich sein Herzschlag. Seine Reaktion schien ihm albern, er tat nichts, wofür eine Strafe angebracht wäre. Und doch konnte er nicht sagen, warum ihn das ungute Gefühl, das ihn schon den Abend über begleitet hatte, noch immer nicht loslassen wollte.
Als eine schmale Hand seine Schulter fasste, zuckte er ungewollt zusammen. Im Zwielicht des Abends erkannte er die junge Frau fast nur noch als Silhouette, doch die Helligkeit genügte, um das feine Schmunzeln auf ihren Lippen zu sehen.
„Wen erwartest du hier zu finden? Einen bösen Geist?“
Aigonn antwortete nicht. Er versuchte pikiert zu wirken, doch ihr wissender Blick entwaffnete ihn. Er gab sich geschlagen, jedoch machte die junge Frau keinerlei Anstalten mehr, Späße weiter in die Höhe zu treiben.
Ihr Ausdruck wurde ernst. Sie blickte sich kurz nach beiden Seiten um, bevor sie mit gedämpfter Stimme anmerkte: „Manchmal frage ich mich, ob es an mir liegt, dass ich diese Menschen nicht verstehe! Dieser Bauer, Oran, niemand verlangt doch von ihm, dass er so viele Leute bewirtet, ohne dass er es sich wirklich leisten kann! Oder nicht?“
„Nein, du hast Recht. Oran hat ein gutes Herz, aber meiner Meinung nach überschätzt er zu oft seine Möglichkeiten.“
Die junge Frau nickte nur, als hätte sie diese Vergewisserung gebraucht, um sich selbst und ihre Art zu denken zu bestätigen. Sie überlegte kurz, dann sagte sie: „Gibt es Dinge, die ich wissen sollte, wenn ich weiterhin versuche, Lhenia zu spielen?“
„Sicherlich.“ Aigonn hielt inne. Das Unwohlsein war nicht von ihm gewichen, und allmählich vermutete er, dass es nicht allein in seiner Sorge um den Zorn des Schamanen begründet war. Er begann vorsichtig, als er einwarf: „Ich könnte dir viele Dinge erzählen, aber … vielleicht würdest du mir zuvor meine Fragen beantworten?“
Die junge Frau zog die Augenbrauen in die Höhe.
„Was weißt du darüber, was hier geschieht? Ich glaube dir, dass du nicht bewusst diese Rolle angenommen hast, die du nun verteidigen musst, aber du kannst mir nicht erzählen, dass du vollkommen ahnungslos durch diese Welt wandelst, bis dich irgendein Lichtblick ereilt!“
„Nun …“ Ihre Mundwinkel zuckten unmerklich. „Erinnerungen kehren wieder, das ist wahr. In diesem Moment würde ich sagen, dass all das, was ich wusste, zumindest wie ein Instinkt in mir mein Handeln bestimmt. Und du hast Recht, ich bin nicht umsonst hier.“ Nun zögerte sie. Ein kurzes Blitzen in ihren Augen verriet, dass sie Aigonn längst nicht so sehr traute, wie sie vorgab. Sie zweifelte an seinem Wissen, seinem Verständnis für die Dinge, die am Laufen waren, um was auch immer es sich handelte – und diese Tatsache machte ihn wütend.
Die Nebelfrau erschien ihm nicht mehr, hatte kein Ohr für seine Fragen. Eine wildfremde, wiederauferstandene Tote, die sich unerkannt unter seinen Leuten aufhielt, sah ihn gern als offene Informationsquelle, speiste ihn aber mit Belanglosigkeiten ab. Wie ein Kind, als dumm gebrandmarkt, fühlte Aigonn sich plötzlich, und die junge Frau spürte diese Regung ebenso schnell, sodass sie besänftigend hinzufügte: „Ich kann dir nicht so viel sagen, wie du vielleicht glaubst. Ich erinnere mich noch immer fast gar nicht an das … was ich war … Aber ich kann dir verraten, dass ganz andere Mächte als die Nebelgeister mein Eingreifen wünschen. Warum auch immer.“
Für einen Herzschlag waren Aigonn die Worte entfallen. Die Fragen in seinem Kopf bedrängten ihn und quälten ihn immer weiter um Antworten, die ihm niemand geben konnte. Niemand! Eben dies schien ihn in den Wahnsinn zu treiben. Erneut überkam ihn die nun gut gekannte Enttäuschung, sodass es ihm fast sinnlos schien zu fragen: „Du weißt wirklich nicht, was hier geschieht?“
Die junge Frau schüttelte nur mit dem Kopf, während ihr Blick zu Boden wanderte. Die lauten Stimmen, die auf einmal vom Haus her zu ihnen drangen, unterbrachen die Spannung des Moments, sodass die junge Frau vorschlug: „Wir sollten ein Stück weiter in das Dorf hineinlaufen. Ich fürchte, wir bekommen ansonsten sehr bald Mithörer.“
Aigonn nickte nur. Er folgte der jungen Frau zwischen den Häusern hindurch. Sie wählten bewusst die engeren Wege zwischen Ställen und Viehpferchen, um den Schatten der Gebäude zu nutzen. Als sie ihn wieder verließen, leuchtete für einen Moment Lhenias rotes Haar im letzten Licht des Tages, als wäre sie entflammt. Ein fremdartiger Anblick, allein, weil Aigonn hätte glauben können, es wäre nichts passiert. Kein Krieg, kein Opfer, dieselbe Lhenia, die er immer gekannt und nie sonderlich gemocht hatte. Eine Illusion, einen Herzschlag lang.
Irgendwann blieb die junge Frau stehen und drehte sich wieder Aigonn zu. Die Stimmen hatten sich entfernt und stattdessen Platz gemacht für das leise Lied des Windes. Aigonn fröstelte unmerklich. Die Hitze des Tages war verschwunden. Erste Feuchtigkeit haftete auf dem Gras.
„Ich würde dir wirklich gerne sagen, was hier geschieht.“ Die Stimme der Frau hatte an Spannung verloren. Stattdessen wirkte sie erschöpft, so angreifbar, dass Aigonn sich dabei fast unwohl fühlte. „Aber ich kann es nicht. Ich hatte gehofft, du würdest mir behilflich sein, diese Frage zu beantworten, ganz egal wie!“
Aigonn schmunzelte witzlos. „Ich weiß nichts. Um mich herum geschehen Dinge nur, niemand erklärt mir, was sie bedeuten!“
Unvermutet begann die junge Frau zu lächeln, zügelte sich aber, um Aigonn nicht zu beleidigen. „Zu meiner Zeit hätten die Menschen dich einen Seher genannt. Du hast ein Gespür für die Wesen der Anderen Welt, wie kein Schamane es jemals vermögen würde. Doch die Geister treiben immer nur ihr Spiel mit dir. Du kannst sie sehen, mit ihnen sprechen, doch du durchdringst die Kräfte und Mächte nicht, von denen sie und wir alle zehren. Deshalb hast du keine Macht über sie.“
Aigonn stockte. Was auch immer er hatte sagen wollen, die Worte waren ihm entfallen. Er musste zweimal neu ansetzen, bevor er über die Lippen brachte: „Woher willst du das wissen?“
„Das kann ich sehen.“ Nun lächelte die junge Frau wieder so, wie sie es bei ihrer Begegnung an diesem Mittag getan hatte – wissend und schwer durchdringbar. „Die Geister dieser Welt umgeben dich immer, ständig, du scheinst sie anzuziehen. Eigentlich müsstest du es spüren können.“
Müsste er das? Auf einmal war Aigonn die Lust vergangen, über diese Dinge nachzudenken. Obwohl er nun Antworten erhielt – andere, als er erhofft hatte, aber Antworten –, sah er sich nicht im Stande dazu, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Vielleicht, weil er Dinge wissen würde, die er doch lieber nicht erfahren hätte. Ein Seher. Er kannte diesen Begriff aus den alten Sagen, die seine Mutter ihm früher erzählt hatte. Was Rowilan wohl dazu sagen würde?
„Du bist eine Schamanin gewesen, nicht wahr? Als du noch gelebt hast.“
Die junge Frau lächelte noch immer. Bei Aigonns Frage schien sich ihr Blick nach innen zu kehren, als ob sie nun in ihren eigenen Erinnerungen suchen müsste. „Ich glaube ja. Zumindest bei euch wäre ich es gewesen.“
Aigonn nickte. Das Zwielicht hatte die Schwelle zur Dunkelheit überschritten und alle Gestalten in schwarze Silhouetten verwandelt. Neben Orans Haus hatte man weitere Lagerfeuer entzündet, die nun wie Scheiterhaufen gen Himmel loderten.
Auf einmal hielt Aigonn inne. Neben den lauten, allmählich betrunken klingenden Stimmen der Feier schien eine weitere Stimme vom Wind herangetragen zu