Aigonn zog die Augenbrauen in die Höhe. Es erschien ihm ebenso fragwürdig, wie der weniger gut situierte Bauer Oran gut und gern siebzig Menschen in seinem winzigen Haus unterbringen wollte – die unerwarteten Gäste von außerhalb nicht eingerechnet –, als auch, wie man in dieser Menschenmenge ein unbemerktes Gespräch führen sollte. Doch Aigonn gab keinen Einwand. Es hatte keinen Sinn, diese Frage auszudiskutieren – und die junge Frau ließ ihm dafür ohnehin keine Zeit.
Sie verabschiedete sich nur mit einem kurzen Nicken, rückte den Korb zurecht und verschwand schließlich zwischen den Häusern in Richtung des Baches. Aigonn blieb zurück und starrte versonnen zu dem Schaf, das sich – größtenteils geschoren – das von der Sonne strapazierte Gras zu Gemüte führte. Er seufzte. Es hätte ihn nicht gestört, wenn die junge Frau geblieben wäre, um ihm beim Scheren der übrigen Schafe zu helfen.
Orans Haus
Auch wenn Aigonn sich sicher gewesen war, dass Orans Vorhaben betreffend der Feier nur übermütigen Reden entsprungen war, so musste er sich täuschen. Mit Mühen hatte er gerade die fünf Schafe von ihrem dichten Pelz befreit, als der Bauer persönlich zu ihm gekommen war, um ihn einzuladen. Aigonn war erfreut gewesen, einen weiteren Menschen gefunden zu haben, der ihn nicht ausschließlich mit Argwohn betrachtete. Doch in Gedanken an die vielen anderen Bewohner des Dorfes, denen er am liebsten aus dem Weg gehen wollte, hätte er die Einladung zur Feier am liebsten ausgeschlagen. Aber die junge Frau erwartete ihn. Das wusste er. Auch wenn er den wahren Grund nicht wirklich kannte, ermahnte ihn eine Stimme in seinem Kopf der Wichtigkeit, dieser Frau beizustehen, wer auch immer sie war. Ganz gleich, dass er nicht wirklich glücklich über diese Erkenntnis war.
Aus diesem Grund weihte er den schweißdurchnässten Efoh bei dessen Wiederkehr aus dem Wald in die Neuigkeiten ein, die sich ergeben hatten; lediglich das Gespräch mit der jungen Frau ließ er aus. Sein Bruder hatte nach der Mühe, das an diesem Tag unwirsche Pferd als Zugtier der Baumstämme zum Dorf zurückzulotsen, keinen rechten Sinn für Klatsch und Geschichten. Stattdessen leerte er einen Krug Wasser in einem Zug, machte sich auf den Schlaffellen breit und meinte dann endlich zu Aigonn: „Meint Oran ernst, was er dort geplant hat?“
„Scheinbar.“ Aigonn zuckte mit den Schultern, während er vor seinem Bruder stehen blieb und sich versonnen Waldbeeren zwischen die Lippen schob.
„Das wird ihn in den Ruin treiben. Seit seine Frau gestorben ist und er die Felder nicht mehr allein bewirtschaften kann, lassen seine Erträge zu wünschen übrig. Vieh hat er kaum. Mich würde interessieren, womit er die vielen Menschen bewirten will!“
„Ich hoffe, dass unsere Brüder und Schwestern genügsam sind und seine Lage bedenken. Wobei er wenigstens zwei, drei Fässer Bier bereitstellen sollte … Wie auch immer. Ich weiß es nicht …“
„Wovor fürchtest du dich, Aigonn?“
Die unerwartete Frage seines Bruders brachte Aigonn vollkommen aus dem Konzept. Er wollte schon einmal nachhaken, bevor er sich der Bedeutung bewusst wurde, innehielt, die Stirn runzelte und schließlich entgegnete: „Warum glaubst du, dass ich mich fürchte?“
„Etwas beschäftigt dich. Das kann ich sehen. Etwas, das du nicht vollends greifen kannst und dir unheimlich wird. Was ist es?“
Aigonn schwieg. Einen Herzschlag lang kam ihm ein Gedanke, der eine passende Antwort hätte sein können. Doch er behielt ihn für sich und beschloss stattdessen, ihn mit einer anderen Person zu teilen, die mehr von diesen Dingen wusste als sie alle. Dessen war Aigonn sich sicher.
Einen langen, stillen Moment atmete Rowilan die feuchte Luft des Waldes, bis seine Gedanken zur Ruhe kamen. Die Sonne war dabei, ihren Weg über das Firmament zu beenden. Die roten Strahlen zwischen den Baumkronen verwandelten sich allmählich in graues Zwielicht; und endlich fand Rowilan die Konzentration, sich auf den Moment zu besinnen. Immerhin hatte er diesen Tag schon lange Zeit vorher errechnet.
Bald würde die Sonne den Höhepunkt ihres Jahreslaufs erreichen. Auf diesen Zeitpunkt, dem Moment im Sonnenjahr, der das langsame Sterben des mächtigen Gottes am Himmel ankündigte, nach dem die Tage kürzer wurden, warteten alle Geister und Wesen der Welt gleichermaßen. Zur Sonnenwende wurden Geister, Menschen, Licht- und Schattenwesen gleich. Bald darauf würde goldenes Getreide auf den Feldern stehen – solange die Götter, die Sonne und der Mond den Menschen gewogen bleiben würden.
Aus diesem Grund war Rowilan an diesem Abend in den Wald gekommen. Der Hain, der sich zwischen dem Strauchwerk des Dickichts vor ihm auftat, schimmerte im Zwielicht auf seine ureigene, geheimnisvolle Art. Rowilan erkannte den mächtigen Menhir bereits von weitem, den dort ein alter Gott für die Menschen hinterlassen hatte, damit dieser ihnen immer nahestehen konnte. So wollten es zumindest die Legenden. Bereits die Urahnen der Bärenjäger waren an diesen archaischen Ort gekommen, um zu den Göttern zu sprechen. Und die Heiligkeit haftete ihm noch bis heute an.
Rowilan verneigte sich ehrfürchtig, bevor er auf das feuchte Laub des Hains hinaustrat. Eine gewaltige Eiche dominierte den Ort, schien wie ein Schutzgeist auf den Menhir hinabzusehen, und durchzog mit ihren knorrigen Wurzeln die gesamte Fläche. Die Geister des Baumes beäugten Rowilan misstrauisch. Er kannte sie, schon seit seiner Ausbildung. Doch sie trauten ihm bis heute nicht.
In seiner rechten Hand hielt er eine schwere, kunstvoll verzierte Bronzekanne. Kleine Götterfiguren waren an ihrem Rand angebracht und wachten über den heiligen Trank, den Rowilan zum ersten Mal seit Monaten wieder gebraut hatte. Er würde es ihm ermöglichen, weiter zu sehen, als es seine Fähigkeiten für gewöhnlich zuließen. Heute nämlich galt es zu erfahren, was die Götter als Preis dafür forderten, die Felder zur Sonnenwende zu segnen.
Für einen Moment blitzte der vergangene Tag in seinem Geist auf. Der Ärger über Aigonn und die Rückkehr von Lhenia vermischten sich zu einer Wolke aus Gefühlen, die wie Kopfschmerz in seinem Schädel pochte.
Unwirsch schüttelte Rowilan seinen Kopf und schob die Erinnerungen beiseite. In diesem Hain hatte der Alltag keinen Platz. Die Götter und die Andere Welt waren ihm näher als die irdische Wirklichkeit. Er konzentrierte sich darauf, weshalb er gekommen war, wie viel an diesem Ritual hing.
Als es hinter ihm im Dickicht zu rascheln begann, sah Rowilan sich nicht um. Es gab nur eine Person, die den Mut hatte, eine solch heilige Stätte ohne Weiteres zu betreten.
„Ich bin bereit!“, begrüßte Aehrel den Schamanen, bevor der alternde Krieger mit drei Fackeln in den Händen in den Hain hinaustrat. Nur eine hatte er bisher entzündet – wohl um damit leichter durch das Dickicht zu gelangen. Drei war die heilige Zahl der Götter – das Symbol für Geburt, Tod und Wiedergeburt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die heilige Dreiheit.
Aehrel lief zu Rowilan, der mit gut zehn Fuß Abstand vor dem Menhir stand und ehrfürchtig zu dem Felsen hinaufsah. Rowilan hörte, wie der Krieger in einiger Entfernung etwas auf den Boden fallen ließ, ein Säckchen, irgendetwas, es war nicht von Bedeutung. Als Aehrel direkt hinter ihm stand, sagte er: „Lassen wir es beginnen!“
Damit nahm Rowilan die Kanne in beide Hände. Fast lautlos steckte Aehrel vor ihm die Fackeln in den Boden. Das trockene, talgbestrichene Holz entflammte knisternd, die Wärme der Flamme erfasste Rowilan wie ein sommerlicher Windhauch. Mit jedem Knacken des Holzes, jedem Rascheln der Blätter über ihm entfernte sich sein Geist immer weiter von der Wirklichkeit.
Es zischte. Dann verbreitete sich ein schwerer Geruch, der Rowilan in den Schleimhäuten brannte und bis zu seinem Geist vorzudringen schien. Ein dichter Rauch wehte mit dem Wind über den Hain, verschleierte die Bilder vor seinen Augen. Jetzt war es an der Zeit.
Der bittere Geschmack des Trankes mochte Rowilan schon seit vielen Jahren vertraut sein, doch er schüttelte ihn mit jedem Mal so, als hätte er ihn noch nie gekostet. Die Wirkung setzte rasch ein, die Welt drehte sich vor seinen Augen, während