„Ist schon gut.“ Der Fürst lächelte mild. Zwar konnte die junge Frau erkennen, dass Enttäuschung in seiner Stimme mitschwang. Doch er unternahm nichts mehr, das sie oder Lhenias Vater zurückhalten würde. „Nimm deine Tochter ruhig mit. Wir können später mit ihr reden!“
„Ich danke Euch.“ Er hielt noch einen Moment inne. Dann packte er die Hand der jungen Frau, als würde augenblicklich ein Dämon zur Tür hereinstürzen und sie ihm wieder entreißen, bevor er sich umwandte und ihr mit strahlenden Augen zu verstehen gab, dass er gerne gehen wollte.
Die junge Frau fügte sich. Sie wusste nicht, ob sie sich nun besser fühlen sollte – zusammen mit einem fremden Mann nach Hause zu gehen, der in ihr seine Tochter sah, eine Tochter, die er unlängst verloren geglaubt hatte. Auf eine gewisse Weise fühlte sie sich schäbig, mit ihm auf solche Weise zu spielen. Doch ganz gleich, wie er darauf reagieren würde. Dieser Moment erschien ihr für die Wahrheit mehr als unpassend.
Gefangen
Als Aigonn die Augen aufschlug, schien ein Felsen auf seinem Körper zu liegen. Er blinzelte verschlafen in das Zwielicht des Raumes, während er sich wunderte, woher um alles in der Welt diese Müdigkeit kam. Doch sie war da. Sie schien ihn zu erdrücken. Und es fiel ihm schwer, dagegen anzukämpfen.
Als er das leise Rascheln von Schritten auf Strohmatten vernahm, zwang er sich dazu, die Augen offen zu halten. Verschwommen konnte er die Gestalt eines jungen Mannes erkennen, der leise flüsternd Obst aus einem Vorratstopf räumte, es klein schnitt und danach auf einem Teller einer sitzenden Frau in die Hand drückte.
Efoh. Die Wirklichkeit brachte auch die Schmerzen zurück. Unvermutet begann Aigonn zu husten, als er seinen Körper in eine sitzende Position hievte. Das Brennen in seiner Kehle war zu einem stechenden Kratzen verklungen, mit dem er leben konnte. Doch woher die Müdigkeit rührte, vermochte er sich nicht zu erklären.
„Aigonn!“ Efohs Stimme ließ Aigonn aufblicken. Sein Bruder stand schmunzelnd neben dem Regal, einen Apfel in der einen, ein Messer in der anderen Hand. „Haben die Geister dich aus ihren Fängen entkommen lassen?“
„Das ist nicht so witzig, wie du glaubst.“ Aigonn konnte darüber nicht grinsen. Der heisere Ton seiner Stimme erschreckte ihn – noch mehr, als er durch ein Räuspern nicht besser wurde. Finster blickte er zu Efoh auf, während er krächzte: „Wie lange habe ich geschlafen?“
Prüfend blickte sein Bruder zum Lichtstreifen unter dem Türspalt, der nur noch blass zu erkennen war. „Die Sonne müsste sehr bald nicht mehr zu sehen sein. Draußen herrscht bereits wieder Dämmerung.“
„Große Götter!“, flüsterte Aigonn, während er sich mit einer Hand über die Augen fuhr. Einen ganzen Tag hatte er geschlafen. Einen Tag lang. Verbissen versuchte er endlich, sich von der Müdigkeit zu befreien, die noch immer nach ihm langte. Je länger er sich behauptete, desto intensiver kehrten die Erinnerungen wieder – und mit ihnen Ratlosigkeit. Die Bilder hingen wie die grotesken Fetzen eines Traumes in seinem Schädel, das ohrenbetäubende Geschrei dieses Wesens hallte in seinem Kopf wider, ohne dass er es irgendeiner lebenden Kreatur zuordnen konnte.
„Möchtest du gar nicht wissen, was du verschlafen hast?“
„Was?“ Auf eine gewisse Weise störte Efoh. Aigonn war endlich wach genug, über die Geschehnisse dieses Morgens angemessen nachzudenken. Am liebsten hätte er Efoh in den Tierpferch geschickt, gleichwohl wissend, dass dieses Haus wie ihm ebenso seinem Bruder gehörte. Nur aus dem Augenwinkel erkannte Aigonn, dass seine Mutter ihn beim Essen der Obststücke immer wieder verstohlen musterte. Er hielt inne. Es war das erste Mal seit Jahren, dass seine Mutter von ihm mehr wahrnahm, als die Hintergrundgeräusche ihres vegetierenden Daseins. Abwesend schob sie sich die Apfelstücke in den Mund, während ihre Augen flackernd über sein Gesicht huschten. Aigonn konnte nicht sagen, an was sie dachte. Fragend legte er den Kopf schief. Binnen eines Herzschlags hoffte alles in ihm, dass seine Mutter auf ihn reagieren, ihm ein Zeichen geben würde. Doch sobald er die Geste vollführt hatte, trübte sich ihr Blick, driftete ihr Geist davon in die undurchdringlichen Weiten ihres Kopfes.
Enttäuscht lehnte Aigonn sich zurück. Efoh hatte wachsam die stumme Begegnung der letzten Überlebenden seiner Familie beobachtet, bevor er den Faden wiederfand. „Aigonn?“
„Was? Ja, ich höre dir zu!“
„Lhenia ist wieder hier.“
Aigonn stockte. Einen Herzschlag lang starrte er auf die Innenfläche seiner Hand, mit welcher er sich die Schläfen massiert hatte. Dann sah er zu Efoh auf. „Was sagst du?“
„Lhenia ist wieder im Dorf. Heute Morgen, wohl kurz nachdem du Rowilan deinen unbeugsamen Willen demonstriert hast, hat sie vor dem Tor gestanden. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.“
Die Gedanken überschlugen sich in Aigonns Kopf. Die junge Frau, sie war zurückgekehrt. Vielleicht hatte sie Antworten auf die Fragen gefunden, die sie und Aigonn beschäftigten. Womöglich wusste sie, was hier vorging.
Ohne etwas hinzuzufügen, sprang Aigonn auf. Er gab Efoh keine Erklärung, stürzte an seiner Mutter vorbei und stolperte halb zur Tür hinaus. Das Dämmerlicht draußen kam dem Feuerschein im Inneren des Hauses nahe. Nur noch ein letzter goldgelber Schleier hing über dem Horizont, während die grauschwarze Nacht mit ihren ersten Sternen an Stärke gewann.
Die feuchte Luft und plötzliche Ruhe draußen vor dem Haus dämpften Aigonns Übermut. Sollte er einfach in das Heim des Bauern Oran stürzen und nach dessen Tochter verlangen? Das konnte er nicht. Nicht, wenn er nicht dem ganzen Dorf beichten wollte, dass er mehr von der jungen Frau zu wissen schien als sie alle. Auch wenn man dies längst vermutete. Scheinbar hatte sie nicht versucht, irgendjemand anderen in den Umstand einzuweihen, dass sie eine ganz andere als Lhenia war. Wer auch immer sie nun sein mochte. Wahrscheinlich war der Gedanke, den er eben gefasst hatte, das Unklügste, das er tun konnte.
Doch er hatte Fragen. So viele Fragen, dass deren Beantwortung nicht aufschoben werden konnte. Zielstrebig wandte er sich dem Palisadentor zu. Von hinten hörte er undeutlich, dass eine der Nachtwachen denselben Weg eingeschlagen hatte.
Die Nebelfrau! Sie würde Antworten haben! Ganz egal, wie rätselhaft sie sich sonst gerne gab. Dieses Mal würde sie Aigonn endlich Rede und Antwort stehen müssen, was auch immer für ein Spiel sie selbst mit ihm trieb.
Die Nebelschwaden, die Aigonn von weitem bereits vor dem Wald aufziehen sah, bestärkten ihn in seinem Beschluss. Als er die Palisaden erreicht hatte, wollte er bereits ohne große Fragen zu stellen das Tor öffnen. Doch auf einmal zog ihn der feste Griff einer Hand rückwärts.
„Aigonn!“ Die scharfe Stimme einer Torwache ließ Aigonn aufsehen. „Was soll das werden?“
Erstaunt hielt Aigonn inne. Ohne sich einen Reim darauf machen zu können, welchen Fehler er soeben begangen hatte, fragte er den Mann, der nur undeutlich zu erkennen war: „Was? Ich möchte hinaus, das ist alles! Hat Behlenos jetzt eine nächtliche Ausgangssperre erteilt, weil er fürchtet, die Geister der Anderen Welt könnten uns bei Dunkelheit in den Wäldern besser zu fassen kriegen?“
Aigonn hatte die Worte halb im Spaß gemeint. Doch als sich der Griff auf seiner Schulter versteifte, spürte er, dass er zu weit gegangen war. Strenge schwang in der Stimme des Wachpostens mit, als er Aigonn anwies: „Spotte nicht über unseren Fürsten! Jeder kann gehen, wohin er will! Jedoch hat Behlenos kurzfristig beschlossen, dass er dich außerhalb des Dorfes ausschließlich in seiner oder Rowilans Nähe wissen will.“
Aigonn traute seinen Ohren nicht. Er hätte beinahe gelacht, so unsinnig erschienen ihm die Worte des Wachpostens. Doch als er diesen mit voller Beharrlichkeit seine Stellung wahren sah, überkam ihn die unfassbare Wahrheit. „Das meint er doch nicht ernst! Mit welchem Recht sperrt Behlenos mich im Dorf ein!“
Das Krächzen hatte Aigonns Ausruf in eine heisere Fistelstimme gekleidet. Nur einen Atemzug lang kam ihm der Gedanke, wie ungeheuer albern er gerade eben geklungen haben musste. Doch dafür blieb ihm keine Zeit. Wut wallte ungebremst in ihm auf. Vorausschauend