„Ich … ich weiß es nicht. Ich habe nur gesehen, wie diese Bedrohung über uns ragte, wie der schwarze Schatten eines großen Mannes.“ Svea verbarg das Gesicht in ihren Händen, als könne sie so die Erinnerung vor ihrem geistigen Auge auslöschen. Doch sie konnte die Bilder nicht leugnen. Sie holte tief Luft und wischte sich die Tränen aus den Augen. Gefasster sprach sie weiter: „Jemand wird versuchen, uns zu trennen, damit wir uns nie mehr wiedersehen.“
Faolán war fassungslos. „Was? Wie meinst du das? Was meinst du damit, wir werden uns nie mehr wiedersehen?“
„Hör mir doch bitte zu, Faolán. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es eintreffen wird. Nur, dass wir in Gefahr sind. Das ist das Einzige, was ich aus den Bildern deuten kann.“
„Das kann nicht sein. Es darf nicht sein! Svea, Trennung kann unmöglich unser Schicksal sein! Sag’ mir, dass du dich irrst. Bitte, Svea, sag’ es.“
Doch Svea konnte es nicht versprechen. Die Bilder ihrer Eingebung waren zu eindrücklich gewesen. Dennoch versuchte sie den aufgebrachten Freund zu beruhigen. „Liebster, hör mir doch bitte zu.“
„Wer, um Gottes Willen, könnte uns etwas Böses anhaben? Worin könnte die Gefahr bestehen?“, fragte Faolán, als habe er Svea nicht gehört.
„Faolán, würdest du mir jetzt bitte einfach nur zuhören?“
Der Novize rang mit sich und wurde schließlich wieder etwas ruhiger. Als er keine Fragen mehr stellte, fuhr Svea mit ihrer Erklärung fort: „Du weißt, dass jeder sein Schicksal selbst in der Hand hat. Deine Mönche mögen dir vielleicht etwas anderes beibringen, und große Ereignisse mögen auch vorgegeben sein. Doch nicht alles ist vorbestimmt. Ich kann dir lediglich sagen, dass jemand versuchen wird, uns von weiteren Treffen abzuhalten. Diese Person will vor allem dir etwas Böses antun und wird dabei keine Mühe scheuen.“
„Aber das ist nichts Neues. Drogo will mir täglich etwas Böses. Je grausamer, umso besser. Damit kann ich leben, ich tue es schon seit Jahren.“
„Nein, Faolán, es ist nicht Drogo. Es ist jemand anderes. Diese Person ist um einiges mächtiger als Drogo. Jemand mit großem Einfluss …“
Sveas Stimme erstarb plötzlich und sie horchte erschrocken auf. Kurz darauf hörte auch Faolán, wie sich jemand einen Weg durch den Wald bahnte. Furcht blitzte in Sveas Augen auf. Ihre Worte waren nur noch ein angsterfülltes Flüstern:
„Er ist hier!“
Eilig entstieg sie dem Tümpel und lief zu dem Busch, an dessen Äste sie ihre Kleider gehängt hatten. Noch bevor sie sich ihr dünnes Leinenkleid überziehen konnte, brach auf der gegenüberliegenden Seite des Weihers plötzlich ein Mann aus dem Unterholz. Faolán und Svea blickten sich bestürzt um und der Novize erkannte sofort, wer sie ausfindig gemacht hatte: Prior Walram!
Der Mönch blieb zunächst überrascht am Rande der Lichtung stehen, begriff aber schnell, was sich vor seinen Augen abspielte. Ohne weiter zu zögern lief er los, um das Mädchen zu erreichen, doch Svea war schneller. Flink griff sie nach ihrer Schultertasche und dem Schuhwerk, richtete noch einen kurzen Blick auf Faolán, als wolle sie sich zugleich entschuldigen und verabschieden, dann verschwand sie im Geäst des Unterholzes. Walrams zornige Ausrufe hallten durch den Wald. Das Mädchen war ihm entkommen und so blieb ihm nur Faolán, der noch immer bis zur Hüfte im Weiher stand. Der Mönch hatte keine Scheu vor dem Wasser, watete hinein und zog den Novizen am Ohr zum Ufer.
Mit jedem Schritt war Faoláns Nacktheit deutlicher zu sehen. Allein diese Tatsache entsetzte den Prior bereits aufs Äußerste. Als er jedoch Faoláns Männlichkeit erblickte, deren Erregung schon beinahe abgeklungen war, erahnte er das volle Ausmaß der begangenen Sünde.
Wieder auf trockenem Boden und außer sich vor Zorn, brach Walram einen langen Tannenzweig ab und begann mit lauten Beschimpfungen auf den Novizen einzuschlagen. Faolán, der sich der Hiebe nicht zu erwehren wusste, war erleichtert, als nur wenige Augenblicke später der Cellerar ebenfalls auf der Lichtung erschien.
„Walram, seid Ihr des Wahnsinns, den Knaben derart zu schlagen?“
„Nein, werter Bruder“, antwortete der Prior schwer schnaubend und mit einem beängstigenden Glimmen in den Augen. „Ich bin keineswegs des Wahnsinns. Doch Euer Gehilfe hier, er ist der fleischlichen Sünde verfallen.“
Erneut wandte sich Walram an Faolán und trieb ihn mit Hieben voran. Jetzt konnte auch Ivo sehen, in welchem Zustand Faolán sich noch vor kurzem befunden hatte. Ohnmächtig schloss er die Augen, als wolle er ein Stoßgebet gen Himmel senden. Doch als er sie wieder öffnete, war Faoláns abklingende Erregung noch immer deutlich zu sehen und er ahnte, mit wem Walram den Jüngling im Weiher angetroffen hatte.
Wütend hob der Prior das achtlos abgelegte Habit des Novizen auf und schleuderte es ihm entgegen. „Bedecke deine Scham, bevor ich dir deine zu Fleisch gewordene Lust mit dieser Rute abschlage. Seht her, Bruder Ivo, wie Euer Gehilfe Eure Gutmütigkeit ausnutzt. Zum Wasserholen habt Ihr ihn geschickt, doch stattdessen suhlt er sich mit einer Dirne in einem Dreckloch, am helllichten Tage und vor den Augen des Herrn. Lehrt Ihr ihm auf diese Weise etwa Gottesfurcht?“
Bruder Ivo wusste auf Walrams Spott keine Antwort. Verzweifelt versuchte er ein Argument zu finden, um die Situation zu entschärfen, doch es fiel ihm keines ein. So konnte Walram seine Anklage fortsetzen, während er Faoláns Handeln beaufsichtigte.
„Wäre ich nicht zufällig wie Ihr auf dem Heimweg gewesen, hätte Faolán sein Spiel womöglich auf ewig weitergetrieben und Euch an der Nase herumgeführt. Welch Fügung des Herrn, dass ich heute ein Treffen mit dem Grafen in Neustatt hatte. Wie lange treibt der Sünder bereits dieses Blendwerk mit Euch? Den gesamten Sommer schon oder gar seit dem vergangenen Jahr? Mit Freude werde ich dem Abt davon berichten, darauf könnt Ihr Euch verlassen.“
„Ich … wir … woher sollte ich …?“, versuchte Bruder Ivo sich zu rechtfertigen.
„Bemüht Euch nicht, Euch herauszureden. Eure Unachtsamkeit hat Euren Gehilfen zur fleischlichen Sünde mit einer Dirne verleitet. Es ist eine Todsünde, sich der Wollust hinzugeben. Leichtfertig war es, den Novizen allein in den Wald gehen zu lassen … und doch bin ich Euch dankbar dafür!“
Mit einem teuflischen Grinsen wandte sich Walram wieder an Faolán und trieb ihn, sobald der Novize das Habit angelegt hatte, mit der Rute zum Klosterwagen zurück. Bruder Ivo konnte nichts weiter tun, als ihnen stumm hinterher zu laufen. Jede Verteidigung seines Gehilfen hätte ihn womöglich selbst verraten. Vor dem Abt würde er ohnehin Rede und Antwort stehen müssen. Vielleicht konnte er bei Degenar für den Jungen etwas erreichen.
* * *
Obwohl sich Walram alle Mühe gab, Faolán wie auch Bruder Ivo für den Vorfall am Weiher zur Rechenschaft zu ziehen, war er vor Abt Degenar nur zum Teil erfolgreich. Der Novize wurde natürlich schuldig gesprochen, das konnte selbst der Abt mit all seinem Wohlwollen für Faolán nicht verhindern. Der Cellerar hingegen beteuerte seine Unschuld und bekräftigte seine Absicht, auf den Novizen in Zukunft ein strengeres Auge zu halten. Das klang in Degenars Ohren überzeugend genug und daher maßregelte er seinen Freund zum Missfallen des Priors einzig mit Worten und einer geringen Buße.
Walram versuchte, für Faolán eine möglichst harte Bestrafung zu erwirken. Nebst der körperlichen Züchtigung wollte er den Abt auch davon überzeugen, dass der Novize nicht mehr als Gehilfe des Cellerars geeignet sei. Zu vielen Verlockungen könnte der Jüngling in Neustatt erliegen, zumal der Kellermeister sich als unfähig erwiesen hatte, den Novizen am kurzen Riemen zu halten.
Aber Walram scheiterte. Allen Appellen zum Trotz verhängte Degenar über Faolán keine Strafe, die aus körperlicher Züchtigung, sondern nur aus körperlicher Arbeit bestand. Ebenso sollte er weiterhin Gehilfe des Kellermeisters bleiben, denn niemand sonst eignete sich so gut für diese Aufgabe und damit für das Wohl der Gemeinschaft. Faoláns Strafe bestand darin, die Außenwände der Klosterkirche neu zu tünchen. Eine Arbeit, die in der Sommerhitze nicht nur schweißtreibend und anstrengend, sondern wegen des Hantierens mit Kalk auch noch