Um die hohe Geschwindigkeit des Tieres in dem beengten Innenhof zu verringern, lenkte Wulfhild ihr Tier in mehreren großen Kreisen über den Platz und trieb dadurch die versammelte Menge auseinander. Brandolf glaubte gar zu sehen, dass sie dem Tier sogar noch die Hacken in die Flanken trieb, um es anzuspornen statt zu zügeln. Ein Lächeln auf ihrem breiten Gesicht bekundete, dass ihr dieses Auftreten Vergnügen bereitete.
Rurik schaute sich das Spektakel nicht lange an. Schon nach der zweiten Umrundung seiner Gemahlin begann er lauthals zu drohen, das Pferd dem Schlachter zu überlassen, sollte sie es nicht augenblicklich zum Stehen bringen. Wulfhild ließ das aufgebrachte Pferd immer langsamer seine Kreise um Rurik ziehen und brachte es schließlich vor ihm zum Stillstand. Eine dichte Staubwolke umhüllte ihn und seine Getreuen. Rurik beherrschte sich und blieb ohne eine Regung stehen, während seine Männer zu hüsteln begannen und sich augenreibend abwandten.
Mit Elan sprang Wulfhild vom Pferd und tätschelte zufrieden den muskulösen Hals des Tieres. Erst jetzt konnte man die Fülle dieser Frau zur Gänze erkennen. Direkt vor ihrem Gemahl stehend, blickten sich beide zunächst stumm an. Die Anwesenden im Hof verharrten schweigend und beobachteten, was nun geschah.
Nach wie vor stand Rurik ungerührt da, einem unbeweglichen Felsen gleich. Die Blicke, die er und seine Gemahlin austauschten, erinnerten Brandolf an sein eigenes Ringen mit diesem Mann. Rurik beendete dieses Spielchen und brach das Schweigen mit grollender Stimme.
„Musste das wieder sein? Ich habe dir schon mehrfach angedroht, das Tier wegzunehmen, wenn du es nicht zu beherrschen lernst.“
Die Stille im Burghof war so vollkommen, dass selbst Brandolf am Tor jedes einzelne Wort hören konnte. Wulfhild schien sich daran nicht zu stören. Stämmig und selbstbewusst wie sie war, wich sie keinen Fingerbreit vor ihrem Gatten zurück. Im Gegenteil, sie bot Rurik sogar die Stirn: „Du solltest dich doch noch gut daran erinnern können, dass ich schon ganz andere Dinge zugeritten habe.“
Nach der Bemerkung blickte Wulfhild kurz in die Runde und ihr entging das ein oder andere Grinsen nicht, das rasch hinter einer Hand oder durch ein gesenktes Haupt verborgen wurde. Genau das war es, was sie erreichen wollte: Rurik ein Stück weit lächerlich machen und selbst das Wort führen.
„Und, hast du erreicht, was du wolltest?“
„Ja“, lautete Ruriks knappe Antwort. Es war deutlich, dass er es auf dem Burg hof zu keinem langen Disput kommen lassen wollte, schon gar nicht über dieses Thema. Dennoch fuhr seine Gattin fort.
„Wie viele Tote?“
„Nur wenige. Mein Bruder und seine Frau, Gesinde und ein Teil der Besatzung!“
„Das Kind?“
„Wir suchen es noch. Bisher haben wir es in dieser großen Feste noch nicht ausfindig machen können. Meine Männer durchkämmen im Augenblick jeden noch so kleinen Unterschlupf.“
„Der Junge muss gefunden werden!“
„Ich weiß.“ Rurik wirkte ungeduldig. Er war offensichtlich nicht gewillt, dieses Thema öffentlich weiter auszuführen. Wulfhild bemerkte den aufkommenden Unmut ihres Gatten. Geschickt begann sie, von einer anderen Angelegenheit zu sprechen.
„Du erinnerst dich an unsere Vereinbarung?“
„Natürlich“, gab Rurik entnervt und mit rollenden Augen zurück, als müsse er auch dieses Thema nicht zum ersten Mal mit Wulfhild besprechen. Just in diesem Moment hielt der Rest des Trosses polternd Einzug in die Vorburg und brachte das von Rurik ersehnte Ende des Gesprächs.
Neben den Wagen und der Gefolgschaft war auch ein Pony Teil des Trosses. Darauf saß der von vielen gleichaltrigen oder gar älteren Jungen gefürchtete Sohn Ruriks. Der junge Drogo war ebenso ungestüm wie seine Mutter. Er führte sein Tier in den Innenhof und dann mit kleinen, schnellen Schritten quer über den Platz. Die Menschen, die aufgrund des Gespräches wieder etwas näher an das Paar herangekommen waren, wurden erneut zurückgedrängt. Die Freude des Jungen über den so erzwungenen Gehorsam war unverkennbar und glich der seiner Mutter.
Trotz des Tumults in der Vorburg zog Wulfhild die Aufmerksamkeit ihres Gatten wieder auf sich. Brandolf hatte Mühe, bei dem Lärm die Unterredung weiter mitzuverfolgen und wagte sich ein paar Schritte näher.
„Hast du mit dem Pfaffen gesprochen?“, fragte Wulfhild Rurik fordernd.
„Er ist ein Mönch, kein Pfaffe“, gab Rurik missgelaunt zurück.
„Das tut nichts zur Sache. Ist es beschlossen worden oder nicht?“
„Es wurde alles arrangiert. Und beschlossen war es längst!“
„Wirst du an dem Plan festhalten?“
„Natürlich, Weib!“ Rurik war jetzt sichtlich erbost, dass Wulfhild es wagte, seine Glaubwürdigkeit in aller Öffentlichkeit derart in Frage zu stellen.
„Zweifelst du etwa an meinem Wort und meiner Ehre?“
„Nein, selbstverständlich nicht“, gab Wulfhild etwas gedämpfter von sich, um ihren zornigen Gemahl zu besänftigen.
Sie machte einige Schritte auf das Hauptgebäude zu, hielt jedoch noch einmal inne und wandte sich erneut ihrem Gemahl zu. Ihre Stimme klang laut und deutlich über den Hof.
„Du weißt genau, dass Drogo auch das Wort und nicht nur das Schwert beherrschen muss. So manches Gefecht wird mit dem Federkiel ausgetragen, oft damit entschieden und vor allem damit besiegelt. Eine scharfe Klinge kann zwar manchen Sieg erringen, doch nur das Wort kann ihn auf lange Sicht erhalten und schafft die notwendigen Verbündeten!“
Ohne Rurik die Möglichkeit einer Antwort zu geben, wandte sich Wulfhild ab und ging weiter. Der Klang ihrer Stimme schien noch von den Burgwänden widerzuhallen, als sie die große Halle betrat. Ein derber Fluch kam über Ruriks Lippen. Seine Vertrauten blickten betroffen zu Boden, als ob sie dadurch seinem Unmut entgehen könnten.
Brandolf hatte genug gesehen und gehört. Es war höchste Zeit für ihn aufzubrechen. Möglichst unauffällig führte er sein Pferd durch das Tor in die Vorburg. Wie er gehofft hatte, war der Tross inzwischen nahezu vollständig eingetroffen. Menschen und Tiere drängten sich auf dem kleinen Platz zwischen den Gebäuden, Wagen und Karren.
So schnell wie möglich bahnte sich Brandolf seinen Weg durch das Treiben. Seine Gedanken drehten sich aber noch um das Gespräch zwischen Rurik und Wulfhild. Alle Indizien wiesen darauf hin, dass der Angriff und die plötzliche Rettung der Burg nichts weiter als ihr schmutziges, falsches Spiel gewesen waren. Eine gefährliche Theorie, dessen war sich Brandolf bewusst, doch sie wurde von dem eben vernommenen Disput bekräftigt. Eindeutige Beweise fehlten ihm jedoch.
Kurz bevor Brandolf das Haupttor erreichte, drehte er sich noch einmal instinktiv um und sah Rurik, der ihn beobachtete. Ihre Blicke trafen sich. Es schien, als teilten sie in diesem Moment ein Geheimnis. Brandolf spürte deutlich das Misstrauen, das sich in den Augen des neuen Burgherrn widerspiegelte.
Rurik ahnte es! Er erriet Brandolfs Mutmaßung und Anschuldigung! Schnell löste der junge Krieger seinen Blick, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Er sah gerade noch, wie Rurik zwei seiner Männer anwies, Brandolf zu folgen. Wollte Rurik seine errungene Macht sichern, so musste er Brandolf unbedingt daran hindern, die Burg zu verlassen. Der vor wenigen Augenblicken geleistete Treueschwur war bedeutungslos geworden. Taten würden Rurik mehr Gewissheit geben!
Schnelligkeit würde jetzt Brandolfs bester Verbündeter sein. Ohne sich weiter um seine Verfolger zu kümmern, bestieg er auf dem belebten Hof sein Pferd und trieb es trotz der vielen Menschen lauthals an. Die Leute stoben erschrocken zur Seite und gaben den Weg zum Tor frei. Verwunderte Blicke der Wachen und einige Beschimpfungen begleiteten Brandolf auf dem Weg nach draußen, doch niemand versuchte, ihn aufzuhalten. Die Stute befand sich bereits in vollem Galopp, als sie auf das Plateau vor der Burg preschte.