Degenar hatte allerdings nicht die volle Kunde des Botschafters an seine Mitbrüder weitergegeben. Die Suche nach dem jungen Rogar hatte er instinktiv verschwiegen.
Vor zwei Tagen wusste Degenar noch nicht, weshalb er es geheim halten wollte, doch je länger er sich hier unten im Gewölbe bei dem Knaben befand, umso besser verstand er sein Handeln. Schließlich fuhr er fort:
„Farolds Bruder, dieser Rurik, bleibt bis zur Ernennung zum Grafen durch König Otto vorerst Sachwalter der Grafschaft. Diese Ernennung könnte sich jedoch als schwierig herausstellen. Zuvor muss nämlich der Verbleib des verschwundenen Erben, Farolds Sohn Rogar, zweifellos geklärt sein. Entweder wird der Knabe eines Tages gefunden oder sein Tod kann nachgewiesen werden. In jedem Falle aber entscheidet der König allein über die Zukunft der Grafschaft.“
Als Degenars Worte verklungen waren, stutzte Ivo zunächst. Doch dann weiteten sich seine Augen in plötzlicher Erkenntnis. Sein Mund öffnete sich, formte jedoch nur lautlos den Namen Rogar.
„Genau das denke ich!“, half ihm Degenar. „Für den Finder des rechtmäßigen Erben kann dies sowohl Glück als auch Verderben bedeuten. Es kommt ganz darauf an, auf wessen Seite er sich stellt und wem er den Knaben überantworten wird. Wenn er sich als Farolds Anhänger sieht, dann sollte er besser Ruhe bewahren und den Knaben verstecken. Es sieht ganz danach aus, als hättest du Rogar gefunden und zwar lebend, alter Freund. Ein Umstand, den, so glaube ich, mancher gerne ändern würde. Sollten wir anstreben, dass der Erbe weiter am Leben bleibt, dann müssen wir vorerst Stillschweigen bewahren und ihn wie jedes andere Findelkind behandeln.“
„Warum sollte jemand dem Jungen etwas anhaben wollen?“
„Die Kunde des Botschafters war in meinen Augen etwas widersprüchlich und die Art und Weise, wie er Rurik als Sachwalter ankündigte, machte mich stutzig. Ich traue dem Bruder des verstorbenen Grafen nicht. Frage mich nicht, weshalb. Es ist nur so ein Gefühl, dem ich folge. Obwohl ich Rurik noch niemals begegnet bin, so glaube ich, dass er etwas im Schilde führt und der Junge in dessen Obhut seines Lebens nicht sicher sein würde.“
Degenar blickte wieder auf den Knaben nieder. Die herrschende Kälte hatte auf dem Körper des Jungen eine Gänsehaut hervorgerufen.
„Ivo, schnell, ein Novizenhabit von passender Größe, sonst erkältet er sich noch.“
„Natürlich“, antwortete Ivo und wandte sich zum Gehen. Dann hielt er noch einmal inne. „Du weißt, dass ich dir vertraue, doch ich frage mich, wie lange du den Jungen im Kloster verstecken willst?“
„Das weiß ich noch nicht und wir sollten das zu gegebener Zeit klären. Rasch jetzt, geh und hole ein Novizenhabit, damit er nicht weiter frieren muss. Wir haben schon zu viel Zeit mit unserem Gerede vergeudet.“
Ivo lief mit einer Kerze davon, während Degenar den Knaben noch einmal genauer betrachtete. Er hatte den verstorbenen Farold nur einige Male gesehen und er konnte nicht sagen, ob der Junge ihm ähnlich sah.
Degenar atmete tief durch, dann schritt auch er zur Tat. Er nahm den Siegelring mit der Kette und wickelte beides sorgfältig in das weiße Nachtgewand. Dies wiederum schlug er in den dunklen Umhang, bis er ein festes Bündel aus Leinstoff in Händen hielt, das neutral aussah und nichts über seinen wichtigen Inhalt verriet.
Allein mit dem Kind in dem dunklen, kalten Gewölbe stellte Degenar sich die Frage, ob er richtig handelte. Er war sich nicht sicher, ob dieser Knabe Rogar war oder ob seine Vermutungen Rurik betreffend richtig waren. Trotz seiner Zweifel ging er das Risiko ein, den Jungen als gewöhnlichen Novizen aufzunehmen. Ein regelrechtes Lügengebilde würde er um diesen Jungen aufbauen müssen, zumindest für die erste Zeit. Er hoffte inständig, dass er das Richtige tat, und betete, dass ihm der Herr am Tag des Jüngsten Gerichts diese Lügen, die er mit Sicherheit in naher Zukunft aussprechen würde, vergeben möge.
Mit einem Kopfschütteln schob Degenar diese Zweifel beiseite und suchte nach einem Riemen zum Schnüren des Leinenbündels, als Ivo gerade mit einem Arm voller Gewandungen zurückkam. Der sah seinen Freund mit dem Stoff in der Hand und warf ihm ein großes Stück Leder und einige Riemen auf den Tisch.
„Das Leder wird das Bündel vor Feuchtigkeit schützen. Wer weiß, wo wir es lagern müssen, um es vor neugierigen Augen zu verbergen. Schlage es zweimal in das Leder ein und schnüre es fest. Dann werden nicht einmal die Ratten ihre Freude daran haben!“
Degenar befolgte den Rat seines Freundes. Während er ein unauffälliges Päckchen aus Leder band, begann Ivo dem Knaben ein Novizenhabit überzustreifen. Zunächst das Untergewand und darüber die für den Sommer bestimmte dünne Kukulle.
Der Junge lag ruhig da, gekleidet wie einer der vielen Novizen in diesem Kloster, und die beiden Mönche begutachteten still ihren neuen Schützling. Degenar setzte gerade an, mit seinem Freund das weitere Vorgehen zu beratschlagen, als er wachsam aufhorchte. Der Cellerar vernahm ebenfalls Geräusche, die sich wie leise, schleichende Schritte aus dem Dunkel anhörten. Völlig vertieft in ihre Aufgabe hatten sie nicht bemerkt, dass sich jemand Zutritt zum Keller verschafft hatte.
Der unerwartete Besucher war noch nicht zu erkennen. Die beiden Mönche dagegen, im Kerzenschein am Ende des Gewölbes, waren leicht auszumachen. Degenar und Ivo warteten angespannt an der Tafel. Kurze Zeit später zeigten sich die Umrisse eines Mannes, die mit jedem Schritt deutlicher wurden. Nur wenige Augenblicke später trat ein Mönch in den flackernden Lichtschein der Kerzen. Sein Haupt war von einer Kapuze verhüllt.
Einen Moment lang betrachtete er stumm den Knaben auf dem Tisch, trat dabei noch näher an die Tafel heran und streifte schließlich die Kapuze von seinem Haupt. Degenar hielt den Atem an, als er den Prior der Abtei, Bruder Walram, erkannte. Der Abt hätte es sich denken können, dass er ausgerechnet jetzt hier auftauchen würde. Es lag in Walrams Natur, immer zu den ungelegensten Augenblicken zu erscheinen.
Neugierig beobachtete der Prior die beiden Mönche. Noch immer angespannt, wartete Degenar auf Walrams Kommentar zu dem Jungen. Wie immer würden seine Worte in Klang und Inhalt respektvoll erscheinen. Doch wer genauer hinzuhören wusste, würde in Walrams Tonfall ebenso Spott und Verachtung erkennen können. Selbst jetzt, da er noch schwieg, konnte er eine gewisse Arroganz nicht unterdrücken.
Walram war trotz des Kerzenscheins nur undeutlich auszumachen. Das flackernde Licht erzeugte tanzende Schatten auf seinem Gesicht, das aufgrund des dunklen Habits und seines schwarzen Haupthaars immer wieder im Dunkel des Gewölbes zu verschwinden schien. Einzig Walrams funkelnde Augen spiegelten das Licht als zwei kleine, leuchtende Punkte wider.
Der Prior bevorzugte die dunkelste Gewandung. Wenn darauf angesprochen, so begründete er mit unverkennbarer Eitelkeit, dass dies die einzig passende Farbe zu seinem schwarzen Haupthaar und seinen dunklen Augen sei. Eine Eitelkeit, die der Abt schon mehrfach gerügt hatte, leider vergeblich. Walram achtete auch stets auf Sauberkeit und korrekte Gewandung. Dagegen war nichts einzuwenden, doch er war in dieser Hinsicht einzigartig in der Abtei. Während manche Mitbrüder nur wenige Male im Jahr ein Bad nahmen, war er unablässig dabei, sich zu waschen und zu reinigen. Stets trug er ein sauberes Habit. Das kurze Haar mit einer exakten Tonsur, das täglich rasierte Gesicht und die meist gewaschenen Hände ergaben das gepflegte Bild des Priors. Das alles passte jedoch nicht zur Zurückhaltung und Genügsamkeit eines Mönches, die der Abt erwartete und wie es die Regeln des heiligen Benedikt vorschrieben.
Walrams Äußeres mit der auffallenden, habichtgleichen Nase, die durch die tanzenden Kerzenflammen in ihrem Schatten mal zu wachsen, mal zu schrumpfen schien, wurde durch seine Ausdrucksweise zusätzlich betont. Stets war sie klar und deutlich, seine Wortwahl wohl überlegt. Ein jeder konnte ihn gut verstehen, sowohl in der Lautstärke wie auch dem Sinn nach. Auf diese überhebliche und arrogante Weise sprach er jetzt Degenar an.
„Ehrwürdiger Abt.“
„Ehrwürdiger Prior.“ Mehr als diesen vermeintlich respektvollen Gruß gab Degenar nicht von sich. Nach kurzem Zögern und Schweigen auf beiden Seiten gab Walram schließlich nach und begann scheinbar beiläufig ein Gespräch, als sei er rein zufällig in diesem Gewölbe auf die beiden Mönche gestoßen. Degenar wusste es besser, denn