Sicheren Hufes bahnte sich die Stute den Weg auf dem schmalen Pfad nach unten. Sie drängte sich an den Menschen vorbei, die sich gegen die aufgehende Felswand pressten, um von dem ungestümen Tier nicht in die Tiefe gerissen zu werden. Brandolf spornte sein Pferd weiter an, nahm keine Rücksicht auf die arglosen Leute. Mit Schrecken sah er am Beginn des Anstieges einen Ochsenkarren, der kurz davor war, den Weg nach oben anzutreten. Der Karren würde den Weg blockieren. Ein Entkommen wäre dann unmöglich. Der Ochsentreiber würde seinen Karren nicht mehr wenden können und Brandolf säße in der Falle.
Zu seinem Glück bewegte sich der Karren keine Elle weiter, weil er im Morast der Wiese feststeckte. Der Ochsentreiber fluchte aufs Heftigste und versuchte, die beiden Tiere anzutreiben, jedoch ohne Erfolg. Brandolf sah darin eine Gelegenheit.
Er spornte sein Pferd auf dem letzten Abschnitt des Weges noch einmal an. Beim Ochsenkarren angekommen, stoppte der Krieger das Tier abrupt und sprang aus dem Sattel, noch ehe es ganz zum Stehen gekommen war. Sofort machte er sich daran, dem Ochsentreiber zu helfen.
Der Knecht und Brandolf benötigten mehrere Anläufe und eine Unzahl von Flüchen, bevor sich der einachsige Karren mit einem saugenden Geräusch schließlich aus dem Morast löste. Endlich rollte er wieder voran. Sofort begannen die Tiere, ihre Last auf dem schmalen Pfad unaufhaltsam empor zu ziehen.
„Verfluchte Mistviecher, wehe ihr bleibt noch einmal stehen! Danke, Herr.“
Der Ochsentreiber verbeugte sich mit abgenommener Haube ein wenig, dann sprang er seinem Karren hinterher, um sicherzugehen, dass die Ochsen keinen weiteren Fehltritt begingen. Brandolf nickte zufrieden und ließ den schlammverschmierten Mann seiner Arbeit nachgehen. Dessen raue, antreibende Rufe waren ein Wohlklang in Brandolfs Ohren, bedeutete doch jede gefahrene Elle, dass der Weg für seine Verfolger bald versperrt sein würde. Ein Blick nach oben zeigte ihm, dass Ruriks Männer bereits die erste Hälfte des Pfades hinter sich gebracht hatten.
Rasch sprang Brandolf wieder auf seine Stute und galoppierte geradewegs über die Wiesen zum rettenden Waldrand. Als der Forst erreicht war, zügelte der junge Krieger sein Pferd und wandte sich noch einmal der Burg zu. Ein befreiendes Lachen erklang plötzlich aus seiner Kehle, denn seine Verfolger wurden auf dem schmalen Pfad vom Ochsengespann aufgehalten. Gänzlich unbeeindruckt von den Drohungen der Recken trieb der Knecht seine Tiere immer weiter nach oben. Die Pferde der Krieger wurden Schritt für Schritt zurückgedrängt, ganz wie Brandolf es gehofft hatte.
Alles, was er jetzt noch benötigte, war ein ungehinderter Ritt durch die dichten Wälder der Grafschaft. In diesen kannte er sich bestens aus und der notwendige Vorsprung, den er für eine sichere Heimkehr benötigte, war ihm jetzt gewiss. Vielleicht war ihm das Glück auch hold und er würde auf seiner Reise einen Hinweis auf Rogars Verbleib finden. Doch die Suche nach ihm würde wahrscheinlich noch eine Weile warten müssen. Wichtiger war jetzt erst einmal, Ruriks Treiben ein vorzeitiges Ende zu setzen, bevor es richtig beginnen konnte.
Anno 956 – Faoláns Ankunft
Der vor dem Altar Kniende pflegte Bücher in der Regel sorgfältig zu schließen, nachdem er sie benutzt hatte. Sie waren nicht nur von unschätzbarem Wert für ihn, sondern stellten auch für die Gemeinschaft einen unersetzbaren Reichtum an Wissen und Weisheit dar. Ihre Herstellung war aufwendig und nur selten gelangte man an die Abschrift eines Werkes. Sobald er eines nicht mehr benötigte, verschnürte er den meist hölzernen, in seltenen Fällen auch ledernen Einband mit den dafür vorgesehenen Riemen und Laschen und gab sie in die Obhut des Bibliothekars im Skriptorium zurück.
Bei einem Buch machte der Mann allerdings eine Ausnahme. Es widerstrebte ihm regelrecht, dieses besondere Werk zuzuschlagen oder gar zu verschnüren. Er hatte das Gefühl, die Worte auf diesen Pergamentseiten müssten atmen können und benötigten dafür Raum, um sich zu entfalten. Ihr Inhalt und Sinn entsprachen seinem Leben. So blieb das Neue Testament stets offen auf dem kleinen Altar in den privaten Räumlichkeiten des Klosteroberhauptes liegen.
Nachdem er sich bekreuzigt hatte, erhob sich Abt Degenar langsam aus seiner demütigen Haltung. Meist nutzte der Mönch das Gebet, um wieder einen leichten Kopf zu bekommen, der von all den zu prüfenden Zahlen oft schwer wurde. Vertiefte er sich in die Heilige Schrift, so konnte er stets Kraft und neuen Elan für diese lästigen, jedoch notwendigen Aufgaben schöpfen.
Der Mönch blickte sich in dem kleinen, kargen Arbeitszimmer um, welches ihm als Abt des Benediktinerklosters zustand. Selbst nach all den Jahren fühlte er sich noch immer nicht so wohl hier, wie er es mit Fug und Recht tun könnte. Degenar fiel es schwer, sich an das Privileg zu gewöhnen, eigene Räumlichkeiten innezuhaben. Das galt sowohl für das Schlafgemach wie auch für den Vorraum, in dem sich der Altar, ein Schreibpult, ein Tisch und ein paar einfache Holzbänke befanden. Die Exedra war mit raren, teilweise sogar bunten Glasfenstern ausgestattet.
Zu Beginn seiner Amtszeit hätte Degenar am liebsten wieder bei seinen Mitbrüdern im großen Schlafsaal genächtigt, denn so war er es seit seiner Kindheit gewohnt. Dort kehrte zwar niemals absolute Ruhe ein, doch gerade das fehlte ihm in der Anfangszeit in seinen eigenen Gemächern: Er vermisste das Schnarchen, das laute Atmen und die sonstigen Geräusche der Mitbrüder. Allein das Wissen um ihre Nähe barg für Degenar stets eine gewisse Wärme in sich. In seinem eigenen Schlafgemach hingegen war es des Nachts völlig still und er fühlte sich manchmal einsam.
Doch die privaten Kammern eines Abtes besaßen auch Vorzüge. So konnte Degenar in aller Ruhe bis spät in die Nacht seinen zahlreichen Pflichten nachgehen, ohne seine Mitbrüder zu stören oder, was meist wichtiger war, selbst dabei gestört zu werden. Nächtliches Arbeiten war öfter vonnöten, als er es sich jemals hatte vorstellen können, bevor er sich diesem Amt verschrieben hatte.
Eine arbeitsreiche Nacht würde es auch heute werden, sollte er die vielen Zahlen und Kalkulationen seines Freundes Ivo, dem Cellerar, nicht rechtzeitig bis zur Vesperandacht überprüft haben. Zwar konnte er dem Kellermeister vertrauen, vor allem, wenn es um Zahlen ging, denn diesbezüglich war sein Freund überragend, doch Degenar nahm seine Pflichten ernst und so würde er sich auch diesmal erneut durch die Arithmetik mühen. Gut zu wirtschaften war ein wichtiger Grundpfeiler für die Existenz eines Klosters, denn davon hingen Zukunft und Fortbestand der Gemeinschaft ab.
Als Degenar in jungen Jahren von seinen Mitbrüdern zur Abtwahl aufgestellt wurde, hatte er nicht ernsthaft daran geglaubt, diese auch zu gewinnen. Als einfacher Mönch hatte er noch nicht einmal irgendein Amt innegehabt, wie es meist üblich war. Zudem war seine Gegnerschaft mächtig und besaß gewichtige Fürsprecher. Das Ergebnis der Wahl war umso überraschender, denn sie fiel knapp zu Degenars Gunsten aus. Er hatte das Votum angenommen und war seither das Oberhaupt der Abtei. Doch der anfängliche Übermut, den der Sieg mit sich brachte, wich schon wenige Tage später einer kalten Ernüchterung.
Damals, vor über eineinhalb Dekaden, befand sich das Kloster in einem derart desolaten Zustand, dass nur ein grundlegender Richtungswechsel der täglichen Belange einen Erfolg versprach. Trotz der Ländereien im Klosterbesitz waren die Einnahmen zu gering, um die Ausgaben zu decken. Von einer kleinen Summe, die für besondere Zwecke hätte zurückgelegt werden können, wagte Degenar erst gar nicht zu träumen. Durch jahrzehntelange Misswirtschaft stand das Kloster kurz vor dem Ruin.
Bei der Durchsicht der Aufzeichnungen und Bestände war der alte Kellermeister damals keine große Hilfe gewesen. Degenar hatte sogar den Eindruck, als versuche Cellerar Ansgar, die Tatsachen zu beschönigen oder gar zu vertuschen. Daher beschloss Degenar, dieses Amt mit Ivo neu zu besetzen. Sein Freund galt zwar allgemein als zu jung und unerfahren, um das wichtige Amt des Cellerars zu bekleiden, doch er besaß hierfür eindeutig die besten Fähigkeiten. Ivo beherrschte nicht nur die Arithmetik, sondern behielt stets einen Überblick und hatte Verständnis für die notwendigen Zusammenhänge. Meist fand er für alltägliche Probleme schnelle und praktikable Lösungen, die selbst seine Kritiker überzeugten.
Degenars Entschluss rief trotzdem Empörung hervor. Vor allem die älteren Brüder sahen es als respektlos an, den ehrwürdigen Ansgar seines Amtes zu berauben. Um diesen Unmut einzudämmen, ernannte Degenar seinen Freund zunächst zu Ansgars