Schließlich wandte sich Rurik wieder Brandolf zu und nahm ihn weiter ins Verhör. „Nach allem, was mir von meinen Männern und Euch berichtet wurde, habt Ihr … tapfer gekämpft und viele … Feinde erschlagen. Ihr wart von Beginn des Überfalls an dabei und habt alles genau beobachten können.“ Ruriks Blick forschte nach irgendeinem Hinweis in Brandolfs Augen. „Könnt Ihr Euch erklären, woher die Angreifer kamen?“
Brandolf witterte erneut Gefahr. Sorgfältig versuchte er, Ruriks Falle zu umgehen und wählte seine Worte vorsichtig.
„Anscheinend waren es Nordmänner. Allerdings …“
Brandolf machte eine Pause und erst als er sich der Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher war, fuhr er fort:
„Allerdings muss ich gestehen, dass mir dieser Angriff der Nordmänner recht ungewöhnlich vorkam. Ein befahrbarer Fluss für ihre Langschiffe ist zu weit entfernt, als dass dies einer ihrer schnellen Raubzüge gewesen sein könnte. Tief im Landesinneren eine gut befestigte Burg anzugreifen, das entspricht nicht dem, was ich bisher über ihre Art zu kämpfen gehört habe. Üblicherweise greifen sie Dörfer, kleine Städte und Klöster in Fluss- oder Küstennähe an. Dabei schlagen sie schnell und hart zu, machen sich jedoch ebenso rasch wieder davon, da sie gegen massive Gegenwehr nicht gerüstet sind. Ihr Vorteil ist die Überraschung. Eine Burg wie diese ist für sie zu stark befestigt und die Aussicht auf schnellen Erfolg zu gering.“
Rurik senkte seinen Blick zu Boden, als er die nächsten Worte sprach: „Nun, auf Widerstand sind sie tatsächlich gestoßen, nicht zuletzt durch Euch.“
Dann hob er seinen Blick wieder und schaute Brandolf direkt in die Augen.
„Aber Ihr habt Recht, Brandolf. Es waren tatsächlich Nordmänner. Das ist leicht anhand Gewandung und Bewaffnung der Toten zu erkennen.“
‚Eine Lüge!, dachte Brandolf sofort. „Gibt es denn keine Gefangenen, die man befragen könnte?“
„Nein, es gibt keine überlebenden Angreifer!“
Ruriks Gedanken schienen abzuschweifen und er verweilte einige Augenblicke stumm. Beinahe geistesabwesend blickte er Brandolf wieder an und entließ ihn schließlich mit einer abfälligen Handbewegung und ein paar unverständlich gemurmelten Worten.
Brandolf war von dem plötzlichen Sinneswandel überrascht. Er zweifelte zunächst an der Ernsthaftigkeit dieser Anweisung und erwartete jeden Augenblick eine weitere Frage. Doch als Rurik ihn keines Blickes mehr würdigte, machte sich Brandolf auf, um die Halle zu verlassen. Erneut bildete sich eine Gasse für ihn.
Nach ein paar Schritten hielt er allerdings inne, überlegte einen Moment und machte noch einmal kehrt. Laut richtete er seine Worte an Rurik, der nicht damit gerechnet hatte und sich überrascht umschaute.
„Verzeiht mir, doch eines kommt mir bei all den Ereignissen merkwürdig vor …“, begann Brandolf. Er ließ die Feststellung im Raum klingen, bis Rurik es nicht mehr ertragen konnte.
„Was? Was ist merkwürdig?“, herrschte er den jungen Krieger ungeduldig an.
Brandolf ließ ihn noch kurz warten, dann fuhr er fort.
„Es sind die Leichen der Nordmänner!“
Mehr sagte er nicht. Er wollte erst sehen, ob sich auf Ruriks Gesicht eine Reaktion zeigte. Der würde zwar nicht leichtfertig in eine solch einfache Falle tappen, doch Brandolf hoffte auf diese Weise ein Stück Wahrheit über die vergangene Nacht in Erfahrung zu bringen.
„Was ist mit den Leichen?“, platzte Rurik erneut ungeduldig heraus, nicht gewohnt, dass man ihn warten ließ.
Brandolf genoss diesen Augenblick, dann gab er sich sehr nachdenklich.
„Sie stinken. Und sie befinden sich nicht dort, wo sie getötet wurden.“
Rurik hob die Augenbrauen, als durchschaue er Brandolfs Absicht. Er machte einen Schritt auf ihn zu und gab geradewegs eine Erläuterung für die Umstehenden ab, um Brandolfs merkwürdige Feststellung zu relativieren.
„Es sind sich wohl alle hier darüber einig, dass es sich bei den Nordmännern um ein dreckiges, stinkendes Pack von ungläubigen Heiden handelt.“
Rurik schaute kurz in die Menge und fand nickende Zustimmung. Der mächtige Mann fuhr zufrieden fort.
„Außerdem habe ich gleich nach meiner Ankunft den Befehl erteilt, alle Leichen der Angreifer zu sammeln und zu verbrennen, damit uns ihr Gestank nicht länger belästigen möge. Daher können sich auch keine Leichen mehr dort befinden, wo sie erschlagen wurden.“
Nach dieser Erklärung für die Menge blickte Rurik scharf in Brandolfs Augen und fuhr mit gedämpfter, aber fordernder Stimme fort.
„Gibt es sonst noch etwas, das Ihr vielleicht bemerkt habt und mir mitzuteilen wünscht?“
Mit einem Kopfschütteln verneinte Brandolf die Frage. Er wollte sein Glück nicht überstrapazieren. Ruriks Erklärung genügte ihm vollkommen, um einige Fragen zu beantworten. In scheinbarer Demut senkte er respektvoll sein Haupt, bedankte sich und schritt erneut die Menschengasse entlang, die bis zum Portal führte.
Kurz bevor Brandolf durch die Tür entschwand, drehte er noch einmal kurz den Kopf zur Seite und sah Rurik mit einem seiner Männer sprechen. Dabei bemerkte er, wie Rurik eine achtlose Handbewegung in seine Richtung machte. Das war für Brandolf keine Überraschung. Natürlich würde Rurik ihn beobachten lassen. Würde er es nicht tun, so wäre Brandolf beinahe enttäuscht gewesen. Er musste jetzt sehr vorsichtig sein und alles daran setzen, möglichst schnell aus der Burg zu gelangen.
Ohne weiter zu zögern betrat Brandolf den Burghof. Inzwischen war die Sonne aufgegangen und die ersten Strahlen erhellten die Mauern der Feste. Die düstere Schlacht wurde dadurch wie ein unwirklicher Albtraum weit entrückt. Tatsächlich waren keine Leichen mehr auf dem Hof zu finden. Rurik hatte es sehr eilig, die Spuren des Kampfes zu beseitigen.
Mit großen Schritten ging Brandolf auf den teilweise abgebrannten und eingestürzten Pferdestall zu. Er hoffte, dass sein Pferd den Brand überlebt hatte, denn ohne seine Stute würde er niemals die Feste verlassen können, geschweige heil zur Burg seines Vaters gelangen. Genau das musste ihm jetzt aber unbedingt gelingen.
Unterschiedliche Gedanken rasten durch seinen Kopf. Bilder der Schlacht tauchten vor seinem inneren Auge auf. Immer häufiger kehrte eine bestimmte Situation wieder, bis er schließlich nichts anderes mehr sah: Rogars überstürzte Flucht und Sigruns Tod. Diese Erinnerungen schmerzten sehr. Doch Brandolf hatte inzwischen begriffen, dass Sigrun das einzig Richtige getan hatte. Mit ihrem eigenen Leben hatte sie das ihres Kindes erkauft. Ein hoher Preis, um den Fortbestand der eigenen Familie zu sichern. Ungläubig schüttelte Brandolf den Kopf. Der Graf und seine Gemahlin waren tot und nur Rogar war noch am Leben. Dieses Leben galt es jetzt zu beschützen. Dazu war es allerdings erst einmal notwendig, den Jungen zu finden.
Derart in Gedanken vertieft betrat Brandolf den Stall, wo er zu seiner Erleichterung tatsächlich seine Stute neben einigen anderen Pferden wohlbehalten vorfand. Der junge Krieger war froh, dass Rurik bisher noch nicht so schlau gewesen war, ihm sein Pferd zu nehmen. Die Stute war kein Schlachtross, wie es wohlhabende Ritter von höherem Rang bevorzugten. Das wäre bei weitem zu aufwendig für Brandolfs Vater gewesen. Die Kosten für ständig neue Waffen, Rüstungen und für die Besatzung seiner kleinen Burg verschlangen schon genug Gelder und Abgaben.
Die braune Stute des Kriegers war wesentlich kleiner und zierlicher gebaut als ein Schlachtross. Mit ihrem ruhigen Gemüt war sie im Gefecht allerdings ebenso beherrscht wie ein solches und darüber hinaus sehr viel wendiger als die meisten Pferde. Zudem hatte das Tier eine einzigartige Ausdauer und konnte über lange Strecken im Trab laufen. Darauf kam es jetzt an: eine schnelle Rückreise.