Ohne Gefühl für Zeit und Raum kam Brandolf erst wieder zur Besinnung, als sich ihm niemand mehr in den Weg stellte. Mit einem Mal übermannte ihn die Erschöpfung des Kampfes. Er blieb stehen und blickte in den Himmel. Regentropfen stachen wie unzählige Messerspitzen in sein Gesicht. Kraftlos sank er auf die Knie. Sein Körper war durchnässt von Regen, Schweiß und Blut, das aber nicht das seine war. Brandolf hielt sein Gesicht gen Himmel gerichtet und ließ den schwächer werdenden Regen auf sich niedergehen, als wolle er die Nacht und all seine Taten von sich waschen. All den Schmerz und all das Töten. Der Krieger schloss die Augen, um nichts mehr sehen zu müssen. Langsam spülten die Regentropfen das Blut von seiner Klinge und schon bald lag das Schwert wieder nahezu rein und unschuldig in seiner Hand.
Nach einer Weile öffnete Brandolf seine Augen und blinzelte in die anbrechende Dämmerung des Sommermorgens. Der Regen hatte das Feuer des Schweinekobens und der Stallungen gelöscht, doch stiegen noch immer Rauchschwaden der verkohlten Reste empor und lagen über dem Burghof. Während Brandolfs Kampf war eine zweite Reiterschar auf der Burg eingetroffen und hatte in das Kampfgeschehen eingegriffen. Von diesem Augenblick an hatte sich das Geschick der Greifburg gewendet und der junge Krieger war nicht mehr der Einzige gewesen, der sie verteidigte.
Erschöpft schaute sich Brandolf um und sah Bewaffnete, die Verwundete versorgten, Gefallene beiseite trugen, Pferde einfingen und das Chaos der Nacht zu beseitigen versuchten. Einige Leichen ließen sie achtlos liegen und Brandolf erkannte, weshalb: Kleidung und Waffen nach waren es die überwältigten Nordmänner. Um sie würde man sich später kümmern, sie zusammentragen und anschließend verbrennen. Nur so konnte man verhindern, dass sich die Ratten an ihnen nähren würden.
Je länger Brandolf sich umsah, desto merkwürdiger kamen ihm die Leichen der Barbaren vor. Mühsam erhob er sich, packte sein Schwert und ging langsam über den Hof. Er wusste nicht genau, was ihn störte, doch er betrachtete einige der Toten genauer. Schließlich entdeckte er es: Helme, Schilde und Waffen befanden sich beinahe ausnahmslos neben den Toten. Keiner hielt seine Waffe in der Hand oder trug den Helm auf dem Haupt. Es schien, als habe man einfach alles achtlos hingeworfen. Brandolf bezweifelte, dass die Männer im Augenblick des Todes alles von sich geworfen hatten, zumindest hatte er so etwas noch nie erlebt. Vielleicht machte er sich aber auch nur zu viele Gedanken nach dieser furchtbaren Nacht und es hatte nicht das Geringste zu bedeuten.
Brandolf schritt weiter über den Burghof. Aus den verkohlten Überresten des Schweinekobens und des bis zur Hälfte niedergebrannten Pferdestalls stieg ihm der süßlich beißende Gestank von verbranntem Fleisch in die Nase, den selbst der Wind nicht fortzutreiben vermochte.
Da kam Brandolf ein Gedanke: Sigrun! Der Leichnam der Gräfin lag bestimmt noch dort, wo sie der Nordmann niedergestreckt hatte, vor dem Tor der Stallungen. Brandolf eilte dorthin und fand seine tote Herrin. Unbeachtet hatte man sie in Regen und Schlamm liegen lassen. Er kniete neben ihr nieder und wischte den Schmutz und das strähnige Haar aus ihrem blassen, kalten Gesicht. So verweilte er respektvoll an ihrer Seite, gedachte der Toten und haderte mit sich selbst und seinem Unvermögen, sie nicht gerettet zu haben. Dann betrachtete er das Gesicht der toten Gräfin genauer. Wie schon bei Farold erkannte er auch in ihrem Antlitz einen Ausdruck, der eine seltsame Friedlichkeit ausstrahlte. Erhabenheit und Zufriedenheit waren darin zu sehen, als wären die letzten Gedanken ihres Lebens glückliche gewesen.
Brandolf erinnerte sich, wie ihm einst vor vielen Jahren ein alter Recke vor einer Schlacht gesagt hatte, dass man wahren Frieden und Glück allein im Tod finden könne und er sich daher nicht davor zu fürchten brauche. Vielleicht hatte der Alte ja Recht gehabt. Brandolf fühlte sich allerdings alles andere als glücklich. Er war seiner Aufgabe als Ritter und Getreuer nicht gerecht geworden, hatte die Grafenfamilie nicht zu schützen vermocht und der Erbe, um den er sich von jetzt an kümmern sollte, war vor seinen Augen entschwunden. Er musste ihn finden!
Doch bevor er sich dieser neuen Aufgabe widmen konnte, sah es Brandolf als seine Pflicht an, das Grafenpaar ein letztes Mal zu vereinen. Das war er ihnen schuldig. Sanft schob er einen Arm unter Sigruns kalten Körper und hob ihn an. Seine Herrin, selbst im Tod noch so unbeschreiblich schön, wollte er nicht im Schlamm liegen lassen. Vor allem nicht neben der Leiche ihres Meuchlers.
Bei diesem Gedanken bemerkte er, dass der Körper des ersten Mannes, der Sigruns Schicksal besiegelt hatte, nicht mehr dort lag, wo Brandolf ihn niedergestreckt hatte. Sein Blick suchte nach dem zweiten Mann. Dessen Leichnam befand sich ebenfalls nicht mehr dort, wo Brandolf ihm ein Ende bereitet hatte.
Sachte ließ der Krieger die Gräfin wieder zu Boden gleiten und ging auf den zweiten Toten zu. Als er sich dem Leichnam näherte, stieg ihm ein Gestank in die Nase, den selbst der beißende Qualm des erstickten Feuers nicht überdecken konnte. Ein Gestank, den Brandolf von einem alten Schlachtfeld her kannte, auf dem Scharen von Krähen ein wochenlanges Festmahl abhielten. Es war der Gestank der Verwesung und stammte von der Leiche nur wenige Ellen vor ihm.
Ein heftiger Würgreiz versuchte, von Brandolf Besitz zu ergreifen, doch er konnte ihn unterdrücken und trat näher an den Gefallenen heran. Das Gesicht des Toten war bereits von grauer Farbe, die Hände nahezu schwarz, als trüge er Handschuhe. Blut fand Brandolf an der Leiche nicht und erst unterhalb des Stalldaches, etwa drei Ellen weiter, konnte er blutgetränktes Stroh finden. Dort hatte er den zweiten Nordmann niedergestreckt, doch sein Leichnam war nicht in der Nähe. Einem Impuls folgend suchte Brandolf nach der tödlichen Wunde, die er dem zweiten Mann zugefügt hatte, jedoch vergeblich. Stattdessen fand er eine kleine Wunde am Schädel, die von einem Pfeil oder dem spitzen Ende einer Streitaxt stammen mochte. Brandolf hatte sie diesem Mann weder zugefügt, noch konnte sie von dieser Nacht stammen.
Es gab keinen Zweifel mehr: Dies waren nicht die Männer, die er getötet hatte. Irgendjemand musste die Gefallenen ausgetauscht haben! Doch weshalb nur? So sehr er sich den Kopf darüber zermarterte, er konnte keinen Grund finden. Sein Instinkt sagte ihm allerdings, dass dies hier einen üblen Beigeschmack hatte. Ein Beigeschmack aus Vorsatz, Arglist und Hinterhalt, den man am liebsten mit einem kräftigen Schluck Wein hinunter spülen wollte, so wie es Graf Farold am Tage zuvor getan hatte.
Da erinnerte er sich wieder an die letzten Worte seines Herrn: „Eine List … Verflucht seien er und dieses Weib! Er wollte sie schon immer haben, die Burg und die Grafschaft …“. Jetzt erst verstand Brandolf, dass hinter der heutigen Nacht mehrsteckte als nur ein Überfall der gefürchteten Nordmänner. Farold hatte es vor seinem Tode bereits erkannt. Vor allem musste er gewusst haben, wer hinter dem Angriff steckte.
Brandolf hingegen war es noch verborgen, doch er entschloss sich herauszufinden, was hier vor sich ging! Er wandte sich von den stinkenden Leichen ab und begab sich wieder zu seiner toten Herrin. Vorsichtig hob er Sigruns leblosen Körper empor und überquerte unter den erstaunten Blicken der Anwesenden den Innenhof. Mit einem Fuß stieß er einen Torflügel zur großen Halle auf und betrat den Raum. Überrascht traf er dort auf den Großteil der überlebenden Burgbewohner und auf eine stattliche Anzahl unbekannter Krieger. Offensichtlich hatten sie die Burg gerettet.
Zunächst nahm niemand Notiz von Brandolf. Doch nachdem einige den Leichnam in seinen Armen bemerkt hatten, traten sie rasch beiseite. Die Menge öffnete sich für den jungen Krieger. Aus Respekt vor dem Leichnam erstarb das unterschwellige Gemurmel und betroffenes Schweigen breitete sich in der Halle aus. Vereinzelt vernahm Brandolf ein leises Schluchzen. Einige Frauen hielten sich ungläubig die Hand vor den Mund, andere verbargen vor Entsetzen ihre Gesichter. Männer nahmen ihre Kopfbedeckungen ab, senkten ihr Haupt und blickten zu Boden. Es war ehrliche Trauer, die diese Menschen zeigten, denn ihre Herrin war beliebt gewesen und ihr Tod war ein großer Verlust.
Brandolf schritt die Gasse entlang, die sich hinter ihm wieder schloss und blieb schließlich vor einer Gruppe bewaffneter Männer stehen, die sich trotz des allgemeinen Schweigens noch besprachen. Sie standen um den reich verzierten Sitz des Grafen. Wer darauf Platz nahm, war befugt, Recht zu sprechen. Wer darauf saß, war ebenso berechtigt, die Abgaben einzutreiben und die Geschicke der Ländereien zu lenken, wie er im Gegenzug verpflichtet war, dem Volk in Notzeiten beizustehen. Auf diesem Sitz hatte jetzt jemand Platz genommen, den Brandolf noch nicht erkennen konnte.
Erst nach einer