Einige Tage verbringen Alexandra und ihre Mutter in der Klinik. Schließlich steht die Entlassung an. In dem kleinen Krankenhaus sind alle Patientinnen über den Termin informiert. Eine große Abschiedsrunde findet sich zusammen. Die Frauen, die gleichfalls gerade entbunden haben oder kurz vor der Entbindung stehen, treffen sich bei Alexandra und wünschen ihr und ihrer Mama das Beste für den weiteren Weg. Voller Freude und ein wenig feierlich sitzen sie beieinander. Alexandra schaut ernst und doch zugleich freundlich. »Ich danke euch«, sprechen ihre Gedanken. »Auch ich wünsche euch alles Gute. Schön, dass ihr zu mir gekommen seid!«
Abschließend treffen sich die Eltern noch mit Dr. Ekkehard zum Entlassungsgespräch. Zuerst unterhalten sie sich über die zurückliegende Geburt und die kommenden Tage. Doch der Arzt möchte noch etwas mitteilen. Er holt aus seinen Unterlagen einige Fotos hervor. »Ich habe diese Aufnahmen gemacht«, sagt er, »von der Plazenta. Schauen Sie mal. Eine ganz ungewöhnliche Plazenta. Das musste ich aufnehmen. Ich habe zuvor noch nie so etwas gesehen.« Dr. Ekkehard zeigt den Eltern die Fotos. Darauf ist ein flaches, handtellergroßes, leicht ellipsenförmiges Organ zu erkennen.
»Sehen Sie diese vielen kleinen Hügel?«, fragt der Arzt.
Die Eltern nicken. Sie können jedoch nicht nachvollziehen, was ihr Gesprächspartner als derart ungewöhnlich ansieht. Noch nie zuvor haben sie das Foto einer Plazenta betrachtet. Sie reichen die Aufnahmen zurück. Für sie lässt sich die Bedeutung der Aussage von Dr. Ekkehard nicht einordnen und sie fragen auch nicht nach. Ihr Wunsch ist es, nun endlich in ihr vertrautes Zuhause zu kommen.
Der Arzt blickt weiterhin voller Verwunderung auf die Bilder.
»Das ist wirklich ausgesprochen ungewöhnlich«, wiederholt er sich. »Sehr ungewöhnlich!«
Das ist, was meinen Körper nicht verlassen wollte, denkt Sofía. Diese besondere Plazenta hat für Alexandra gesorgt. Mit der Geburt musste sie sterben. Offensichtlich fiel ihr der Tod nicht leicht. Sie klammerte sich an das sie umgebende Gewebe, als hätte sie ihre Aufgabe noch nicht ganz erfüllt und stände die Versorgung des Kindes weiterhin in ihrer Pflicht. Für ein Kind zu sorgen ist eine riesige Herausforderung! Bei diesem Gedanken durchströmt Sofía ein leichter Schreck. Es kann eine über die Maßen anspruchsvolle Aufgabe sein und diese habe nun ich zu übernehmen.
»Es ist ein großer Auftrag, den ihr erfüllen sollt«, spricht Alexandra. »Die Plazenta mit ihren kleinen Hügeln bildete für mich den Sternenhimmel ab. Ich weiß, ihr seid die richtigen Eltern! Mama, Papa, ich möchte den Sternenhimmel in mir tragen, auch wenn ich Mensch dieser Erde geworden bin. Helft mir dabei!«
Alexandra drückt ihren Kopf an die Brust ihrer Mama, die sie in ihren Armen trägt. Sofía schaut hinab auf ihr Kind. Was für ein wunderschönes Mädchen, denkt sie. Eine tiefe Liebe durchströmt sie. Die Worte des Arztes erreichen sie nicht mehr. Ein Lächeln zeigt sich in ihrem Gesicht. So sehr freut sie sich, nun mit Alexandra nach Hause zu kommen. Sie fühlt sich stark und voller Vertrauen.
Jens blickt aufmerksam hin zu seinem Gegenüber. Dieses Gespräch und die Aufregung des Arztes graben sich in sein Gedächtnis ein. Doch jetzt möchte er die Geburtsklinik verlassen. Er hat eingekauft, der Wagen steht vor der Tür, bei der Arbeit ist alles organisiert. Alexandra und seine Frau sind gesund. Patricia befindet sich noch im Kindergarten. Er ist glücklich!
Alexandra wird in ihre Decke eingepackt. Das Gepäck steht bereit. Die Fahrt nach Hause dauert nur zehn Minuten. Dort sind zwischenzeitlich zahlreiche Glückwünsche von der Familie und Freunden eingegangen. Die Nachbarn haben Blumen vorbeigebracht. Gleich muss Patricia vom Kindergarten abgeholt werden. Gemeinsam essen sie danach zu Mittag. So beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Es ist die zweite Dezemberhälfte, der Mond steht fast voll am Nachthimmel und bald wird der kürzeste Tag des Jahres anbrechen.
Lebenszeiten
Es gibt Kräfte, es gibt Zeiten,
es gibt Menschen, Himmelsweiten.
Es gibt Leid, für Freude Räume,
hartes Leben, schöne Träume.
Es gibt vieles zu erleben,
es wird das immer für euch geben.
Die Seele ist unendlich groß.
Ihr Menschen ahnt der Seele Los,
in vielen Schritten zu durchschreiten
des Daseins vielfältige Seiten.
Die ersten Monate
Es ist Winter, draußen ist es kalt, doch in der Wohnung herrscht warme Geborgenheit. Alexandra gehört dazu! Wie selbstverständlich fühlt sich das an.
Die Eltern teilen sich ihre Aufgaben. Jens schläft nachts im Kinderzimmer bei Patricia, Alexandra bei Sofía im Ehebett. Sie ist ein verständiges Kind, trinkt gut, schläft nachts und tagsüber beteiligt sie sich zufrieden am Geschehen. Schaut man in ihre schönen Augen, dann scheint es, als begegne man großer Weisheit.
Vom ersten Lebenstag an muss Alexandra lernen. Es umgibt sie das Irdische, das immerfort wird und vergeht, das nie vollendet, nie vollkommen sein kann. Stets muss sich der Mensch, will er auf Erden leben, mit Tatsachen auseinandersetzen. Beständig ist er gefordert, sein Dasein zu bewältigen. Alexandra möchte all das, was sie jetzt erfährt, so schnell wie möglich verstehen: Wie funktioniert mein Körper, was höre ich, was fühle ich, was schmecke ich, was kann ich sehen? Ihr ganzes Sein ist darauf ausgerichtet, dies zu begreifen.
»Es ist eine unglaubliche Welt, der ich hier begegne«, spricht sie zu ihren Eltern. »Eine schöne Welt. Alles ist anders als dort, woher ich komme. Ich bin neugierig, was es noch zu entdecken gibt. Vater, Mutter, Schwester, ich kannte euch zuvor. Doch nun berühren wir uns, können uns hören und sehen. Das ist etwas Besonderes!« Alexandras Augen strahlen.
Die Weihnachtszeit steht bevor. Am Nachthimmel zeigt sich der Mond in voller Größe, während der kürzeste Tag des Jahres bereits vergangen ist. Von nun an wird das Licht der Sonne wieder länger scheinen.
Die Oma ist in den Tagen vor Weihnachten zu Besuch gekommen. Natürlich möchte sie Alexandra kennenlernen und freut sich ebenso, ihren Sohn, Patricia und Sofía zu sehen. Sie wird bald weiterfahren und die Feiertage bei der Familie ihrer Tochter, Jens älterer Schwester, verbringen, die ganz in der Nähe Urlaub im Schwarzwald macht.
Patricia liebt ihre Großmutter und es gibt derart vieles, was sie zusammen unternehmen können. Sofort nach der Ankunft der Oma besteht sie darauf, dass sie sich in den Hof begeben. Das kleine Mädchen zeigt, wie gut sie mit dem Dreirad fahren kann. Und die Oma lobt ihre Enkelin. In engen Kurven radelt Patricia, so schnell wie es geht, über den Asphalt, bremst dann abrupt vor der Oma, indem sie beide Füße gegen den Boden stemmt. Sie lacht, wenn ihre Großmutter erschrocken zurückweicht.
Aber natürlich wendet sich die Oma gleichfalls Alexandra zu. Sie nimmt das Neugeborene vorsichtig auf den Arm, betrachtet die dunklen Haare und die großen, tiefen Augen. Alexandra spürt die Zuwendung und Liebe. In Gedanken spricht sie: »Du bist meine Oma. Ich bin Teil dieser Familie. Schau auf deine Liebe, Oma!« Die Großmutter trägt Alexandra durch das Wohnzimmer und spricht mit ihr.
Am 24. Dezember steht der Weihnachtsbaum schön geschmückt im Wohnzimmer. Unter ihm liegen die Geschenke. Aus der Stereoanlage klingen leise Weihnachtslieder. Patricia ist aufgeregt. Die Lichter am Baum, die Geschenke und die Feierlichkeit des Augenblicks machen einen tiefen Eindruck auf sie.
Vor einigen Tagen hat sie zusammen mit ihren Eltern einen Urlaubsfilm angeschaut. Da rennt sie durch die engen Gassen einer kleinen Stadt in Südspanien. Neugierig und voller Faszination bleibt sie vor einem Straßenverkäufer stehen, der Luftballons, kleine Spielzeuge, Windräder und Ähnliches anbietet. Ihre Hand deutet auf all das Bunte. Ihr Blick geht zu den Eltern. Sie erhält eine Plastiktrompete, an der bunte Bänder befestigt sind, die mit jeder Bewegung in der Luft flattern. Voller Freude läuft sie weiter. Sie bläst auf ihrer Trompete.
Diese Welt ist schön und