Dr. Christiansen betrachtet freundlich die Mutter.
»Was kann ich noch für Sie tun?«, fragt sie schließlich.
In der folgenden Unterhaltung kommt das Gespräch auf Frédérick Leboyer, den bedeutenden französischen Gynäkologen, den die Mutter auf einem Workshop kennenlernen möchte.
Die Ärztin schaut leicht versonnen, als sie diesen Namen hört.
»Leboyer, er richtet den Blick auf das Kind«, meint sie. »Dem Kind soll es gut gehen! Sein Wohl steht im Mittelpunkt. Was es erlebt während der Schwangerschaft und schließlich bei der Geburt, ist von so großer Bedeutung. Wenn es dem Kind gut geht, dann gilt das ebenso für die Mutter … und natürlich auch umgekehrt.«
Die Mutter nickt zustimmend. Gelassen sitzt sie auf ihrem Stuhl im Sprechzimmer.
»Jetzt kommt eine Zeit für Ihr Kind, in der es in der Gebärmutter enger wird. Ich kann den kleinen Körper gut durch die Bauchdecke spüren. Der erste Kontakt zu dem, was außen existiert, findet statt – vielleicht auch ein Impuls, diese noch unbekannte Welt zu erkunden.«
Wieder tritt eine kleine Pause ein.
»Möglicherweise beschäftigen Sie sich nun mehr mit der bevorstehenden Geburt oder es kommen Ihnen Erinnerungen an Ihre eigene. Genießen Sie solche Augenblicke!«
Dr. Christiansen wirft einen intensiven Blick auf die Mutter, bevor sie fortfährt.
»Sie strahlen eine solche Ruhe aus!«, wiederholt sie sich und spricht dann weiter. »Manchmal erzählen mir Schwangere, dass sie erleben – oft so wie Sie um den sechsten Monat –, dass die Außenwelt immer stärker in den Hintergrund tritt und sie mehr zu sich selbst kommen. Das ist gut so! Freuen Sie sich auf das Treffen mit Leboyer!«
Alexandra lebt voller Empfindungen, Wollen, Gefühle und Gedanken in ihrer Welt. Sie möchte sich mitteilen und wahrgenommen werden. Ihr Dasein ist beschützt im Bauch der Mutter und vollkommen verbunden mit dem, was sie in ihrem Inneren erlebt. Mutter und Tochter tauschen sich mit großer Intensität aus. Alexandra schaut voller Zuversicht auf sich und ihre Umwelt. Oft richten sich ihre Gedanken an ihre Eltern: »Mama, Papa, euch habe ich als Eltern gewählt. Mit euch möchte ich dieses irdische Leben verbringen! Ich liebe euch und ihr liebt mich. So vieles verbindet uns.«
Noch vernimmt die Mutter ganz unbewusst die Gedanken ihres Kindes. Sie bestimmen in vielem ihr Handeln, aber sie ahnt dies mehr, als dass sie davon weiß. Allerdings: Im Laufe des Zusammenlebens mit Alexandra werden die Eltern immer mehr lernen, ihre Tochter ohne Worte zu verstehen.
Jens, der Vater, hält sich an seinem Arbeitsplatz auf, während seine Frau, Sofía, die Ärztin besucht. Er freut sich auf sein Kind. Er sitzt vor seinem Rechner und bereitet eine Programmieraufgabe für die Ausbildung seiner erwachsenen Schüler vor. Doch heute fällt es ihm schwer, sich auf diese Tätigkeit zu konzentrieren. Seine Gedanken schweifen fortwährend ab. Er erinnert sich: Gemeinsam mit ihrer kleinen, fast dreijährigen Tochter, Patricia, im Buggy unternahmen sie einen Spaziergang. Er weiß nicht mehr, über was sie alles sprachen. Aber der Weg und die Landschaft um sie herum, als seine Frau ihm von ihrer Schwangerschaft berichtete, sind ihm noch vollkommen gegenwärtig. Sie waren auf einem unbefestigten, kaum drei Meter breiten Pfad unterwegs, der am Waldrand vorbeiführte. Es war ein warmer Samstag im Mai. Rechts von ihnen lagen Wiesen und Felder, links begannen sich die Berge hin zum Schwarzwald zu erheben. Kleine Täler führten zwischen gleichmäßig ansteigenden Hügelketten zu abgelegenen Bauernhöfen und Häusern. In dieser Gegend hatten sie früher, als sie noch in der Nähe wohnten, häufig kleinere Ausflüge unternommen. Zwischenzeitlich nennen sie ein größeres Appartement ihr Zuhause – auch am Stadtrand, aber in einer anderen Himmelsrichtung gelegen.
Vielleicht war der Umzug dorthin bereits von der Idee getragen, Platz für ein weiteres Kind zu haben.
»Ich bin schwanger«, sagte Sofía unvermittelt zu ihm.
Jens war überrascht, dies zu hören, und zugleich klang es selbstverständlich. Seit Längerem spürte er den Wunsch nach einem zweiten Kind. Er hatte auch mit Sofía des Öfteren hierüber gesprochen. Ihre Reaktion darauf war eher zurückhaltend gewesen. Daher schaute er sie ein wenig ungläubig an, nachdem er ihre Worte vernommen hatte. Doch seine Augen zeigten große Freude.
»Wirklich? Bist du sicher?«, fragte er zurück.
Sofía nickte und ein wenig Stolz lag in ihrem Blick.
»Das freut mich total! Wie schön.« Jens legte kurz seinen Arm um sie und gab ihr einen Kuss. »Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet«, fügte er nachdenklich hinzu.
Sofía hatte sich in eher kleinen Schritten mit der Idee eines weiteren Kindes angefreundet. Es war erfüllend, Mutter zu sein! Sie empfand darüber eine tiefe Gewissheit und Ruhe. Andererseits existierte in ihr gleichfalls das Verlangen nach Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Anerkennung jenseits ihrer Aufgabe als Mutter. Doch jetzt schien es ihr, als hätte das Kind selbst den Wunsch nach seiner Geburt geweckt. Sie konnte dieses Gefühl nicht in klare Gedanken oder gar Worte fassen. Allein sie spürte es.
Jens und Sofía unterhielten sich auf ihrem Spaziergang darüber, was nun auf sie zukommen mochte, wann die Geburt wohl stattfinden würde und welche Ärzte die Schwangerschaft begleiten sollten. Dies geschah in einer Stimmung erwartungsvoller Freude. Sie würden alles gut hinbekommen, da waren sie sich sicher.
Auf dem Weg zurück nach Hause gingen sie schweigsam und in Gedanken vertieft nebeneinander her. Patricia im Buggy summte zufrieden vor sich hin. Jens überlegte, wie sehr sich doch Ereignisse im Voraus ankündigen können. Wie eine sanfte Erinnerung aus der Zukunft hatte sich in den vergangenen Monaten die Vorstellung von einem weiteren Kind immer wieder in ihm gemeldet.
Nun sitzt er hier an seinem Schreibtisch und muss sich der Erstellung einer Programmieraufgabe widmen. Doch innerlich beschäftigt ihn anderes. Das Familienleben erfüllt ihn. Seine Tochter bringt er morgens mit dem Fahrrad zum Kindergarten, der gleich neben seiner Arbeitsstelle liegt. Mittags holt er sie wieder ab, um dann nach einer schnellen Mahlzeit sofort zurück zur Arbeit zu radeln. Am Wochenende ist die Familie meist gemeinsam unterwegs. Der Tagesablauf ist gut organisiert und alles bereit, den neuen Erdenbürger zu empfangen. Sofía und Jens sind zufrieden und ebenso ihre kleine Tochter. Ihre Eltern erzählen ihr oft von dem Baby, das bald geboren werden soll. Sie freut sich darauf. Sie kennt andere Kinder mit Geschwistern.
Patricia spürt die Anwesenheit ihrer Schwester, ohne dass ihr dies bewusst wird. Vollkommen selbstverständlich erlebt sie diesen Kontakt. Alles ist in guter Ordnung. Ihr kleines Geschwisterchen gehört zu ihrer Welt! Und Alexandra weiß gleichermaßen von ihr. »Du bist meine Schwester«, sprechen ihre Gedanken. »Schwestern müssen zusammenhalten.«
Es ist Sommerzeit. Wie jedes Jahr fährt die Familie in die Ferien. Sie haben einen zum Campingbus umgebauten Bulli gemietet, und in kurzen Tagesabschnitten geht es durch Frankreich bis in den Norden Spaniens. Ihr Weg führt zuerst nach Burgund. Hier finden sie abseits gelegene Campingplätze, eine Landschaft mit sanften grünen Hügeln, Bauernhöfe und beschauliche Dörfer. Patricia thront erhöht in ihrem Kindersitz, lässt sich von der Mutter Geschichten vorlesen, singt hin und wieder ein Lied und genießt die Zeit in dem fahrenden Zuhause. Das Dach des Bullis wird am Abend hochgeklappt. Dann öffnet sich eine bequeme Schlaffläche, und die verwandelt das Gefährt in ein richtiges Heim.
Alexandra ist stets anwesend. »Ich spreche zu euch«, wendet sie sich an die Familie. »Ich gehöre dazu! Ich freue mich so sehr, dabei zu sein. Ihr genießt die Schönheit dieser Erde. Ich möchte euch etwas fragen: Werdet ihr für mich da sein? Ich werde euch benötigen, eure Fürsorge und Liebe. Könnt ihr sie mir vollkommen geben – Schwester, Mutter, Vater?«
Ihre Eltern und ihre Schwester spüren diese Fragen, auch wenn ihr Verstand nichts darüber weiß. Ihr Herz gibt Alexandra Antwort.
»Werdet ihr wirklich für mich da sein?«, fragt Alexandra mit großer Dringlichkeit. Ein tiefes Verlangen nach Sicherheit bricht sich Bahn. Spräche sie diese Worte mit menschlicher Stimme, dann wäre ein leichtes Zittern zu vernehmen.
Über