Jens und Patricia begleiten die Oma zum Parkplatz. Auf dem Weg dorthin sind die Gedanken der Großmutter bei ihrer neu geborenen Enkelin. Alexandra verwirrt sie ein wenig. Sie wirkt derart stark und entschlossen. Dieser kleine Mensch scheint etwas von ihr zu verlangen. Sie weiß nicht, ob sie dies erfüllen kann.
Lange nehmen sich Oma und ihre Enkelin zum Abschied in den Arm. »Du kommst bald wieder, Oma?«, fragt Patricia ihre Großmutter. Diese nickt zustimmend. Schließlich setzt sich die Oma auf den Fahrersitz ihres Autos und fährt los. Sie fühlt sich krank und spürt eine Bürde, die auf ihr zu lasten scheint. Bewusst kann sie allerdings nicht verstehen, was sie so beschäftigt. Vielleicht ahnt sie, dass noch schwierige Zeiten kommen werden.
Die Tage werden länger, die Sonne scheint häufiger und es ist wärmer. Alexandra unternimmt Ausflüge im Kinderwagen. Sie hat kräftig zugenommen, trinkt gerne und versucht ihre Fähigkeiten. Im Frühjahr kommt ihr Opa zu Besuch. Jedes Jahr führt ihn der Weg zur Familie seines Sohnes. Er bleibt nur einige Stunden, denn er möchte weiter nach Südtirol, wo er seit Langem seinen Urlaub verbringt. Er hat Geschenke mitgebracht und natürlich darf Patricia auch die für Alexandra auspacken. Das kleine Mädchen ist stolz, ihrem Opa ihre Schwester zeigen zu können. Sie nimmt den Opa bei der Hand und erklärt ihm alles, erzählt vom Kindergarten, ihren Freundinnen und was Alexandra schon gelernt hat. Der Opa hört geduldig zu. Er bemerkt sogleich, welch starken Willen Alexandra besitzt. Ihn erfasst eine leichte Unsicherheit. Seine neugeborene Enkelin wirkt derart reif. Nachdenklich macht er sich wieder auf seinen Weg. Er hat noch eine lange Fahrt vor sich.
Die Familie der Mutter wohnt in Mexiko. Über Briefe und Fotos ist sie am Geschehen in Deutschland beteiligt. Dass Alexandra an einem der höchsten religiösen Feiertage des Landes geboren wurde, den die Mexikaner mit unendlicher Leidenschaft und tiefer Gläubigkeit begehen, der Erscheinung der heiligen Jungfrau Maria von Guadalupe, wirft ein besonderes Licht auf dieses Kind. Die Basilika der Maria von Guadalupe ist das bedeutendste Heiligtum in Mexiko. Das Bild der Jungfrau in ihrem türkisfarbenen Umhang, von dessen wundersamer Herkunft die Legenden erzählen, half, die Menschen des alten Mexiko in ihrem Glauben zu versöhnen. Denn auch das göttliche Paar Ometecuhtli und Omecihuatl der aztekischen Götterwelt trug solch einen Poncho in Türkis. Ein Herrscher der Dualität, weiblich wie männlich, dem Polarstern zugehörig, ein allumfassender Gott wurde verehrt.
Die mexikanischen Verwandten kennen Patricia von Besuchen und haben sie in ihr Herz geschlossen. Sie möchten gerne mehr über Alexandra wissen. Immer wieder merken sie in ihrer Post an, wie besonders schön dieses Kind ist.
Alexandra ist jetzt über ein halbes Jahr alt. Sie versucht zu stehen und hält sich dabei geschickt an Stühlen oder Tischen fest. Sie entdeckt die Welt – im Buggy spazieren fahren, essen, lachen. Nun begibt sie sich in ihren ersten Urlaub. Es geht zum Lago Maggiore – eine Autofahrt von gut vier Stunden. Die Eltern haben eine Ferienwohnung gemietet.
Alexandra planscht mit ihrer Schwester in einem kleinen, aufblasbaren Schwimmbecken, das auf der Terrasse der Ferienwohnung aufgestellt wurde. »Wir sind wie Zwillinge«, spricht Alexandra. »Schwester, ich sehe das Bild von zwei Sternen, die sich umkreisen – zwei helle Sonnen im Dunkel des Alls. Die Bewegung der einen bezieht sich auf die der anderen und es existiert ein gemeinsamer Mittelpunkt, den sie umlaufen. So ist auch unsere Zusammengehörigkeit, Schwester!«
Patricia versteht ihre kleine Schwester – zwar nicht bewusst, aber sie erlebt es trotzdem. »Erzähl weiter«, antwortet sie in ihren Gedanken. »Berichte mir, was du siehst.«
Alexandra fährt fort: »Vor langer Zeit wurden im Süden Englands Zwillinge als Töchter reicher adeliger Gutsherren geboren. Man erzog sie wie Jungen – in großer Freiheit. Schon früh lernten sie zu reiten und gemeinsam erkundeten sie die Natur auf dem Rücken der Pferde. Stets bestand große Einigkeit zwischen ihnen, sie genügten und sie unterstützten sich. Miteinander zu sein schien ihnen, als hätten sie eine Form der Vollkommenheit erreicht. Platz für Dritte gab es in dieser Beziehung nicht.
Indes als sie älter geworden waren, da gehörte es zu den Pflichten ihres Standes zu heiraten. Aus diesem gesellschaftlichen Zwang gab es für sie kein Entrinnen. Die Heirat trennte sie, und auf ihr Leben legte sich ein dunkler Schatten.
Doch auch dieses Unglück fand ein Ende. Als sie beide älter waren, bereits selbst fast erwachsene Kinder hatten, sorgten sie gemeinsam für Arme und Bedürftige. Sie richteten Häuser ein, in denen den Menschen in Not mit Nahrung, Wohnung und medizinischer Versorgung geholfen wurde. Die Armen nannten ihre Namen voller Hochachtung. Die Schwestern fanden ihren Lebenssinn.«
Patricia hält ihre Schwester fest in den Armen, während sie sich beide in der geistigen Welt austauschen. Aneinandergeschmiegt sitzen sie im warmen Wasser des Planschbeckens, neben ihnen am Rand hält die Mutter die Hand von Alexandra.
»Was bedeutet das?«, melden sich die Gedanken der Älteren. »Warum mussten sich die Zwillinge trennen? Das zu hören macht mich unendlich traurig. Es fühlt sich wie ein riesiger Verlust an.« Weiterhin sitzen sie an die Umrandung des Beckens gelehnt in der Sonne.
»Weißt du, Schwester«, spricht Alexandra. »Es geht darum, trotz der äußeren Trennung glücklich zu sein; zu lernen, dass man auch dann miteinander verbunden bleibt!«
»Du meinst, das muss ich lernen? … Das ist schwer, kleine Schwester, das ist unbeschreiblich schwer!«
»Hab keine Angst, du kannst das. Du wächst und ... es wird nicht leicht, aber es wird gelingen. Dann bist du ganz bei dir und trotzdem gehören wir zusammen!«
»Und du, Schwester? Was ist mit dir? Du sprichst, als wolltest du mich verlassen.«
»Nein. Ich verlasse dich nicht, auch wenn es so scheinen mag. Hab Vertrauen, hab keine Angst! Es kann sein, dass du es mal so empfinden wirst, als wären wir getrennt. Aber das ist nicht wahr. Wir sind immer zusammen! Dennoch geht jede von uns ihren Weg!«
Jetzt plantscht Alexandra laut mit beiden Händen in das Wasser und lacht dabei. Ihre Schwester drückt sie noch enger an sich. Sie spürt zugleich Freude und Schmerz. Doch nach einer Weile lacht auch sie.
An einem Tag unternimmt die Familie einen Ausflug mit dem Schiff. Neugierig schaut Alexandra über das blaue Wasser. Sie spürt die Schönheit dieser Welt. »Mama, es erinnert mich an die Zeit in deinem Bauch. Nur scheint jetzt die Sonne hell. Doch auch in deinem Bauch gab es Licht für mich. Ich war zugleich bei meinen Sternen. Wenn die Seele sich in Verbindung mit der Erde begibt, dann hält sie sich auch bei den Gestirnen auf. Mama, ich weiß, du verstehst gut, was ich sage. Ich kenne deine Träume, die dich in die Weite des Alls führen. Wie oft haben wir während der Schwangerschaft gemeinsam solche Reisen unternommen. Ganz tief in deinem Innern weißt du davon.«
Sofia hält Alexandra fest auf ihrem Schoß. Sie schaut in ihre Welt versunken auf die Oberfläche des Sees, wie sie an ihnen vorbeizieht. Ein leichter Fahrtwind streicht durch ihr Haar. In Gedanken antwortet sie ihrer Tochter. »Mein schönes Kind. Ich liebe die Sterne. Die irdische Wirklichkeit ist mir oft fremd. Sie kann schön sein so wie jetzt, ich weiß. Aber es existieren auch Augenblicke, da verlangt sie zu viel, ist sie zu hart … Seit du bei mir bist, reisen wir zusammen in die Ferne.« Sofia ist sich nicht bewusst, was sie erlebt und kennt ihre Gedanken nicht, während sie leicht an die Reling des Schiffes angelehnt auf das Wasser schaut. Der äußere Betrachter würde meinen, dass sie Tagträumen nachhängt.
»Mama«, spricht Alexandra. »Es existiert auch noch eine Wirklichkeit jenseits der Sterne, jenseits des Himmels, jenseits aller Vorstellung. Denn der Himmel ist für die Seele eine Entsprechung der Erde. Auch heute noch bin ich ebenso im Himmel wie auf Erden. Doch unsere wahre Herkunft befindet sich jenseits der Orte, der Zeiten und Dinge. Dort ist alles und