Mit geübter Hand und dennoch voller Anteilnahme erledigen die Helfer, was zu geschehen hat. Alexandra liegt auf der Brust ihrer Mutter. Beide sind erschöpft und glücklich. Das Wüten des Sturms ist überstanden und brachte etwas Wunderbares hervor!
In all den Tagen der Schwangerschaft hatte Sofía stets das Bild eines Mädchens vor Augen, das sie unter ihrem Herzen trägt. Nun hält sie dieses in den Armen. Es ist wahr, was sie ahnte, wünschte … Es ist Wirklichkeit geworden, was sie als Versprechen spürte. Dieses Kind ist nun auf der Welt. Heftige Freude durchströmt den Körper.
Dr. Ekkehard wartet auf die Nachgeburt. Sie sollte sich schon von der Gebärmutter getrennt haben. Er ist ein wenig ungeduldig. Es ist mitten in der Nacht, er sehnt sich danach, wieder nach Hause fahren zu können. Seine Hand greift in den Mutterleib und will die Plazenta herauslösen. Die Harmonie und Intimität des Augenblicks werden schmerzhaft und jäh unterbrochen. Sofía wehrt sich gegen den unvermittelten, verletzenden Eingriff. Sie stößt den Arzt mit dem Fuß beiseite. Dann gilt ihre Konzentration wieder ganz dem Kind. Es werden Maßnahmen eingeleitet, um die Nachgeburt unter Anästhesie aus der Gebärmutter zu entfernen. Schließlich ist alles glücklich überstanden. Erschöpft findet die Mutter auf der Station Ruhe.
Im Zeichen des großen Lehrers und Heilers, des Zentaurs Cheiron, von dem die griechische Mythologie berichtet, steht die Geburt in Alexandras Horoskop. Die Menschen kennen den Zentaur sowohl als ein seit alters her nach ihm benanntes Sternbild am südlichen Himmel als auch als einen Asteroiden unter seinem lateinischen Namen Chiron. Auf einer elliptischen Bahn umkreist dieser unsere Sonne. In einem Zeitraum von 50 Jahren, den er für eine Umrundung benötigt, begibt sich Chiron zum Rand unseres Sonnensystems, um dann in dessen Mitte zurückzukehren und so zu verbinden, was scheinbar getrennt existiert.
Zu welcher Welt gehört Chiron? Er besitzt vielfache Besonderheiten, und für den Menschen ist es schwierig, seine Erscheinung zu verstehen. Und doch, was Chiron durch seine Bahn miteinander in Kontakt bringt, soll der Mensch in sich vereinen: Himmel und Erde. Es gilt, die schmerzhafte Trennung von der Einheit, die jeder Sterbliche beispielhaft mit seiner Geburt erfährt, anzunehmen und schließlich in sich zu überwinden. Ein Gleichgewicht zwischen Geist und Materie muss der Mensch in sich errichten. Er soll weder mit Überheblichkeit gegenüber der Materie in die geistige Welt fliehen, noch in der Starrheit irdischmaterieller Begrenzung und Notwendigkeit verharren.
In der Erzählung der griechischen Mythologie ist Cheiron halb Pferd und halb von menschlicher Gestalt, ein göttliches Wesen, Sohn des großen Titanen Kronos und der Philyra, einer Tochter des die Welt im stetigen Strom umfließenden gewaltigen Oceanos. Herakles, der ruhmreiche Held, verwundet Cheiron ohne Absicht mit einem vergifteten Pfeil derart, dass dessen Dasein von nicht enden wollender Qual gezeichnet ist. Cheiron wählt die Erlösung durch den Tod, um den Schmerz zu beenden.
Den großen Prometheus befreit er durch diese Tat von den Qualen, die dieser als Gefangener des Zeus – an eine Felswand des Kaukasusgebirges gefesselt – erdulden muss. Er errettet ihn durch den Verzicht auf seine göttliche Unsterblichkeit. Durch den Tod verschreibt sich Cheiron ganz den Gesetzen des Irdischen und führt seine Existenz hin zu einem tiefgreifenden Wandel. Zeus erkennt die Bedeutung seines Handelns und versetzt den allseits bewunderten Lehrmeister und Heiler aus den Tiefen des Totenreichs als Sternbild des Zentaur in den Himmel. Vollendet hat Cheiron, was er zu erfüllen hatte.
Cheiron tritt als Träger einer Zweigestalt in das menschliche Bewusstsein. Als Asteroid und gleichfalls als periodischer Komet wird er angesehen; er verkörpert in seiner Erscheinung ein tierisches und ein menschliches Wesen; er muss an seiner Wunde ohne Aussicht auf Genesung leiden, auch wenn er andere zu heilen vermag; er ist unsterblich und sucht doch die Sterblichkeit als Erlösung.
Cheirons Thema ist die Erfahrung des Zwiespalts zwischen körperlicher Unvollkommenheit und geistiger Größe, zwischen Opfer und Erlösung. Er ist ein Mittler zwischen der materiellen und der geistigen Wirklichkeit. Ihm ist die schamanische Aufgabe eigen, mit den verschiedenen Welten des Menschseins vertraut zu sein. Er kennt die Polarität und bleibt ihrem Widerspruch vollkommen ausgeliefert. Sollte er, der Verwundete, versuchen, seinen Körper zu missachten, so erinnert ihn Schmerz – wie als Vertreter des Urschmerzes, den jeder Mensch erleidet – an seine irdische Gebundenheit. Derart verpflichtet wird der Tod ihm Erlösung!
Cheiron entscheidet sich, mit der Annahme der Sterblichkeit den Weg des Wandels, des Wachstums und der Entwicklung zu gehen. Dieser bedeutet, stets auch Abschied, Zerstörung sowie Trennung zu erfahren. Allein durch das Sterben kann das Neue werden und Fruchtbarkeit das Sein regieren. Das Alte muss vergehen. In der Wirklichkeit des Irdischen befindet sich das Wesen stets in einem Prozess des Werdens und Vergehens. Demgegenüber ist die himmlische Idee, geboren aus dem Denken eines allumfassenden Bewusstseins, immer. Sie wird nie und sie vergeht nie.
Cheirons Heilung folgt aus der absoluten Hingabe, die in größter Liebe das Dasein annimmt. Die Verwundung wird zum Wendepunkt seiner Existenz.
Im Augenblick von Alexandras Geburt steht Cheiron an hervorgehobener Stelle ihres Horoskops. Er regiert am Punkt der Himmelsmitte das Geburtsbild ihres Sternenhimmels. Dieser Punkt gibt Auskunft, wie der Mensch sich im Leben zeigt.
Bereits im Moment der Geburt wird ersichtlich, welch große Aufgabe dieses Kind in sein Leben mitbringt. Geist und Materie, Herkunft und Lebensziel sollen miteinander versöhnt werden. Das Gewaltige des Schöpfungsprozesses hat mit der Geburt seinen bestimmenden Ausdruck erreicht. Und jetzt muss sich zeigen, was dies bedeutet! Alexandra ist an ihre Bestimmung gebunden!
Früh am Morgen bringt die Krankenschwester Alexandra zu ihrer Mutter, die in leichtem Schlaf erschöpft in ihrem Bett liegt. Sofort öffnet sie die Augen, als sie Schritte auf sich zukommen hört. Voller Freude schaut sie auf das kleine Bündel, das ihr gereicht wird. Sie betrachtet das fein geschnittene Gesicht, die schwarzen Haare, die zarten Hände, schaut in die strahlenden Augen ... Ein unendliches Glücksgefühl durchströmt ihren Körper. Für diesen Menschen möchte sie da sein!
Der Eingriff zur Entfernung der Plazenta ist gut überstanden. Die Krankenschwester steht freundlich neben dem Bett. Es scheint, als wollte sie noch etwas sagen. Sie zögert ein wenig. »Ihr Kind besitzt einen ganz besonders starken Willen«, bemerkt sie schließlich. Es gibt diese Augenblicke, in denen die Menschen etwas voll innerer Gewissheit spüren, ohne dass ihr Verstand dafür eine Erklärung weiß!
Alexandra möchte die Wärme und Geborgenheit ihrer Mutter spüren und mit ihr in engem Kontakt sein. »Mama, wir sind auf alle Zeit miteinander verbunden. Sollte das Leben auch vieles von uns fordern, wir meistern das gemeinsam! Es ist ein großer Schritt, auf diese Erde zu kommen. Ich entstamme der Sternenwelt. Ich weiß, Mama, hier erwartet mich Ungewissheit. Ich spüre ein wenig Angst vor der Unabänderlichkeit des Geschehens. Doch zugleich bin ich voller Freude. Lass uns Vertrauen haben!«
Alexandra spürt den Körper ihrer Mutter, hört ihren Herzschlag und wird vom Auf und Ab des Brustkorbs bewegt. Sie schmiegt ihren Kopf an die weiche Haut. Wenig später trinkt sie von der Brust und fühlt sich unermesslich reich versorgt. Alle Last fällt nun ab. Sie ist da!
Zur Mittagszeit kommen Patricia und Jens zu Besuch. Ehrfürchtig steht die kleine Tochter am Krankenhausbett und betrachtet das Neugeborene. Schöne schwarze Haare hat ihre Schwester. Ganz klein und zart wirkt sie. Alexandra soll sie heißen, hat ihr Vater gesagt. Sie findet, das passt. Denn auch wenn ihre Schwester noch ganz klein ist, so wirkt sie doch stark, und mit dem Namen Alexandra verbindet sie Kraft und Willen.
Als Patricia am Morgen aufwachte, wunderte sie sich, dass ihre Betreuerin aus der Kleinkindergruppe bei ihr war. Sogleich erzählte diese ihr, dass die Mama im Krankenhaus sei und ihr Geschwisterchen zur Welt komme. Dass dies bald geschehen würde, wusste sie. Aber warum sich die Geburt mitten in der Nacht ereignet und sie alles verschlafen hat ... So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Die Betreuerin brachte sie in den Kindergarten und Patricia hoffte, ihr Vater käme bald vorbei, damit sie die Mama und ihr Geschwisterchen besuchen können. Gleich beim Ankommen im Kindergarten hat sie allen erzählt, was heute Nacht geschehen ist. Ein wenig ungewohnt schien es ihr, dass Papa und Mama nicht da waren. Eigentlich sollten sie bei ihr sein, wenn etwas derart Aufregendes passiert.