Alexandra - die Geschichte eines ungewöhnlichen Lebens. Michael Wolfgang Geisler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Wolfgang Geisler
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347068643
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lebt in Alexandra. Doch nicht allein mit dieser steht sie in Kontakt, sondern gleichfalls mit dem Wunsch nach Entwicklung. Es ist nicht die Last des noch Unerfüllten, die sie zur Erde zieht. Nein, Alexandra ist bewegt von dem Streben zu erkennen, zu verstehen und vorwärtszuschreiten und gleichfalls auszugleichen, was unversöhnlich die Menschen trennt. Dies ist die große Macht, die sie zur Erde zwingt.

      Schon lange vor der Zeugung ihres Körpers war sie geistig auf der Erde anwesend gewesen, sie hatte sich bei ihrer Mutter aufgehalten, ihren Vater begleitet und ihre Schwester besucht. Doch diese Anwesenheit geschah noch ohne die Unabänderlichkeit, mit der der Wirbel sie dann in die irdische Existenz zwang. Da war sie noch frei von Last und verlangender Pflicht gewesen. Es existierte in diesen Momenten, als sie sich in großer Unabhängigkeit bei ihrer Familie aufhielt, kein Zweifel, dass sie geboren werden wollte. Hingabe soll ihr zukünftiges Dasein bestimmen. Annehmen möchte sie ihr Leben. All das wusste sie in jenen Augenblicken!

       Du starker Mensch

      Du, starker Mensch, bist tief verbunden

      mit der Erde und wirst gefunden

      von den Menschen, die dich rufen,

      weil in vielen hohen Stufen

      sie dich brauchen, um zu sein

      im Leben frei für sich allein.

      Ein Widerspruch liegt nicht darin,

      dass Freiheit sucht in Bindung Sinn.

      Wer du bist, hab du Vertrauen,

      auf dich lässt sich das Leben bauen.

      Schenk Halt den Menschen dieser Welt,

      wer sich in Begegnung mit dir stellt,

      soll auch erhalten, nach dem er trachtet,

      die Freiheit stets die Bindung achtet.

      Ruh du in dir,

      dann sagen wir:

      Die Einsamkeit ist nun vergangen,

      zu neuem Leben wir gelangen.

       Die Geburt

      Alexandras Geburtstermin rückt näher. Alle Vorbereitungen sind getroffen. In einer kleinen privaten Geburtsklinik soll die Entbindung stattfinden. Inzwischen ist es Ende November, die Tage sind kurz und das Wetter kühl. Doch Alexandra will noch nicht das Licht der Welt erblicken. Sie lässt den berechneten Termin verstreichen. »Es ist noch nicht der richtige Augenblick«, spricht sie. »Ich möchte noch ein wenig warten.« Und die Eltern bleiben geduldig. Die Untersuchungen bei Dr. Chistiansen geben ihnen das Vertrauen, dass alles in guter Ordnung ist.

      Zehn Tage sind seit dem geplanten Geburtsdatum vergangen. Der Mond zeigt sich nachts als zarte Sichel am Himmel und wird in zwei Wochen, am 23. Dezember, als letzter und dreizehnter Vollmond des Jahres hell strahlen. Da ist der Moment der Geburt gekommen.

      An diesem Sonntagabend bringen die Eltern wie gewohnt ihre kleine Tochter zu Bett. Heute haben sie gemeinsam einen Ausflug in den Tierpark unternommen. Patricia war fasziniert von den Rindern, Eseln und Kamelen. Frei streifen sie über die großzügig angelegten Weiden. Sie liebt gleichfalls die Affen, wild und laut schaukeln sie am Dach des Käfigs, und die Hühner und Enten, die kleinen Ziegen und dicken Schweine. Jetzt am Abend liest Jens ihr noch eine Geschichte vor und spricht ein Nachtgebet.

      Früh am Abend legt auch er sich schlafen. Er freut sich auf die Bettruhe. Morgen beginnt ein neuer Arbeitstag, da muss er zeitig aufstehen und möchte ausgeschlafen sein.

      Sofía findet noch keine Ruhe. Eine leichte Nervosität hält sie wach. Nach dem Ende der Nachrichtensendung bleibt sie eine Weile vor dem Fernseher sitzen und schaut sich belanglose Beiträge an. Inzwischen nähert sich die elfte Abendstunde. Dann räumt sie in der Küche auf, beugt sich, um einen Kochtopf in eine untere Schublade zu legen, da bemerkt sie ein Ziehen im Bauch und spürt, wie Wasser ihre Beine herunterläuft. Die Fruchtblase ist geplatzt und Wehen setzen ein.

      Vollkommen selbstverständlich erscheint ihr, was geschieht. Die Geburt beginnt.

      »Ich muss raus«, meldet sich Alexandra. »Es ist nun Zeit. Es wird mir viel zu eng im Mutterleib.«

      Worte von Leboyer kommen Sofía in den Sinn: »Wenn eine Frau wirklich Mutter wird, zählt das Kind mehr als sie selbst. Diese Verwandlung von der Frau zur Mutter kann nur erleben, wer den Mut hat, sich den eigenen Gefühlen zu stellen.«

      Sofía begibt sich ins Bad, reinigt und trocknet sich, zieht ihren Bademantel an und denkt weiter an die Worte, die sie gehört hat. »Eine Frau in den Wehen ist wie auf einem kleinen Boot inmitten eines tosenden Sturms. Sie ist ganz allein und begegnet einer Kraft, die viel, viel stärker ist als sie. Eine Geburt ist immer ein Akt der Gewalt. Deshalb muss die Gebärende wissen, dass sie ganz allein auf dem winzig kleinen Boot im schlimmsten Unwetter um ihr Überleben kämpfen wird. Ist sie bereit, sich dieser Erfahrung zu stellen, dann kann sie die Niederkunft als ein großes Fest erleben.«

      Sofía weckt ihren Mann. Schlaftrunken steht er auf. Er ruft die Betreuerin der Kindergruppe von Patricia an, die sich sofort auf den Weg macht. Bis sie eintrifft, ist alles Notwendige vorbereitet.

      Die Wehen kommen nun regelmäßig. Es ist Zeit, durch die kalte Nacht und entlang verwaister Straßen in die Klinik zu fahren. Sofía hat mit hochgelegten Beinen auf der Rücksitzbank Platz genommen. Jens fährt langsam durch die Dunkelheit. Beim Klinikeingang ist der Gehweg leicht gefroren. Jens trägt das Gepäck, stützt zugleich seine Frau, und so begeben sie sich vorsichtig zur Eingangstür. Die Gebärende wird unverzüglich in den Kreißsaal gebracht. Jens begleitet sie. Alles ist gut organisiert und verläuft ohne jegliche Störung. Zwischenzeitlich ist Mitternacht vorbei. Noch einmal denkt Sofía an die Worte von Leboyer: »Die Geburt ist Intimität, daran sind nur zwei wahrhaft beteiligt. Die Gebärende und das Kind. Der Sturm trägt die Frau immer weiter und weiter. Ihre Wahrnehmung ändert sich. Es gibt in diesem Moment nichts auf der Welt, nur noch die Frau und das Kind. Die Reise der Niederkunft muss die Gebärende allein antreten.«

      Jens ist anwesend und doch nur Begleiter. Er spürt dies. Die Mutter gebärt ihr Kind! Bereits während der Schwangerschaft musste er lernen, dass sich seine Frau veränderte und einem Geschehen zuwandte, zu dem er keinen Zugang besitzt. Er erlebt dies als richtig und es ist seine Aufgabe, den eigenen Lebensbereich auszufüllen. Für ihn bleibt Außenwelt, was der Frau Innenwelt ist. Er möchte sie unterstützen, ihr das Notwendige geben, und tritt zugleich einen Schritt zurück. Während ihren Körper Wehen in steter Folge durchströmen, sucht er sie von allen anderen Einflüssen abzuschirmen.

      Dr. Ekkehard, der Gynäkologe, trifft ein. Von ganzem Herzen ist er Geburtshelfer. Bereits sein Vater hat diesen Beruf ausgeübt. Es erfüllt ihn, für die neuen Erdenbürger den Weg zu bereiten. Mitten in der Nacht ist er in sein Krankenhaus geeilt. Er ist bereit. Sofía hat auf einer Geburtsliege Platz gefunden. Helferinnen erledigen behutsam routiniert alle notwendigen Aufgaben. Die Geburt kommt gut voran. Die Spannung der vergangenen Stunden weicht.

      Jens wird zum entbehrlichen Zuschauer. Fast stört er die Intimität des Augenblicks zwischen Mutter und Kind. Ein Schwindel erfasst ihn. Aufregung, Anspannung, Freude, Gerüche und Geräusche … Wie ein Wirbel kreist das Geschehen und trägt ihn mit. Er muss den Kreißsaal verlassen und wieder sein Gleichgewicht finden.

      Alexandra sieht sich von mächtigen Kräften erfasst, die drücken und vorwärtsdrängen. Bedrohlich kündigen sie von einer endgültigen Trennung. Wie ihre Mutter fühlt sie sich einem gewaltigen Wüten ausgeliefert. Jeglichen Halt und alle Gewissheit scheint es zu vernichten. Wellen der Angst durchströmen Alexandra, wenn die starken Mächte ihren Körper zusammenpressen, als wollten sie die Seele in den Leib quetschen, als wäre ein Entrinnen unmöglich. Du gehörst nun der Erde, scheinen sie zu sprechen, und unterliegst irdischen Gesetzen und Pflichten.

      Im Mutterleib schufen Plazenta und Gebärmutter eine Ordnung, die einen beschützenden Himmel, ein tragendes Meer und den festen Halt der Erde zu besitzen schien. Nun verschwindet alles im Chaos. So begründet die Geburt einen Schöpfungsmythos von der Entstehung einer neuen