So war letztlich auch unsere Arbeit nicht umsonst gewesen. Wie heißt es so schön? Mord verjährt nicht! Es wird immer wieder ähnliche Mordtaten geben, aber »unser« Täter wird dafür wohl nicht infrage kommen, nach Absitzen seiner lebenslangen Haftstrafe wird er hoffentlich schon zu alt sein!
Seefahrt tut Not!
Rudolf Kinau (GorchFock)
Schriftsteller
Die Leiche auf den Apfelsinen
Wenn wir als Kriminalbeamte für die Bearbeitung von Todesermittlungsverfahren – im Fachjargon »Leichensachen« genannt – zuständig sind, haben wir es mit Toten auf der Straße, in der sonstigen Öffentlichkeit, in einer Wohnung, einem Hotel, in Wald, Feld und Flur oder manchmal auch in einem Bordell zu tun. Es war und ist ja nun nicht so, dass wir uns um jeden Verstorbenen kümmern mussten, sondern nur um die, die eines »unnatürlichen Todes« gestorben waren, also z.B. durch Tötung, Unfall, Suizid.
In Hafenstädten kommt es immer wieder vor, dass ein Schiff mit einer Leiche anlegt, die von Bord gebracht werden muss. Die Zeiten, in denen in der Seefahrt ein Verstorbener in Segeltuch eingewickelt und dann beschwert über Bord gekippt wurde, sind schon lange vorbei. Heute muss der Tote im ersten Hafen, den das Schiff anläuft, von Bord.
Unsere Landeshauptstadt Kiel ist so eine Hafenstadt und damit das Ziel von Schiffen aus aller Herren Länder. Nicht nur während der berühmten »Kieler Woche« herrscht reger Schiffsverkehr: Der Nord-Ostsee-Kanal und die Deutsche Werft/HDW sind Anlaufpunkte für die unterschiedlichsten Schiffe. Hinzu kommen noch die Fähren nach Skandinavien, ins Baltikum und heute auch noch die vielen Kreuzfahrtschiffe.
Mal führte ein Frachtschiff aus Polen einen toten Matrosen mit sich. Der hatte sich vor Abfahrt eine Flasche Wodka gekauft und diese dann an Bord leergetrunken . Das muss ein fürchterlicher Fusel gewesen sein, überlebt hat er ihn nicht!
Häufiger gab es Tote auf den großen Fähren von Schweden, Norwegen und Finnland. Das waren überwiegend ältere Männer, die die Kreuzfahrtatmosphäre nutzten, ausgiebig und anstrengend zu tanzen und auch übermäßig dem an Bord billigeren Alkohol zuzusprechen – weil er in Skandinavien sehr viel teurer ist. Das war oft zu viel für die »alten Herzen« , ihre Pumpen versagten.
Kam ein Schiff über den Atlantik, fuhr es in die Elbe. Wollte es nicht nach Hamburg, sondern in die Ostsee, musste es bei Brunsbüttel in den Nord-Ostsee-Kanal (international: Kiel-Canal) abbiegen. Da sich in Brunsbüttel nur die Schleusen befanden, ist der nächste Hafen Kiel mit dem Nordhafen, also unsere Zuständigkeit. Der Nordhafen war ein sog. Freihafen, ein Zollfreigebiet, eingezäunt und mit Zollkontrollposten.
Die Schiffe mit Toten an Bord kündigte uns die Seefunkstation Norddeich Radio rechtzeitig fernmündlich an. So wussten wir Bescheid, wann etwa das Schiff in Kiel ankam.
Ich möchte hier ein paar Worte über diese Seefunk-/ Küstenfunkstation verlieren, die es heute nicht mehr gibt. Sie stand seit 1907 bei der Stadt Norden in Ostfriesland und hatte in über hundert Jahren Telegramme mit Schiffen auf allen Weltmeeren ausgetauscht. Sehr bekannt war Norddeich Radio in den 50-er Jahren des letzten Jahrhunderts, als es in vielen Familien noch kein Fernsehen gab. Viele Menschen, so auch wir, hörten sich zu Weihnachten die Grüße an, die die Seemannsfamilien über Norddeich Radio ihren Liebsten sendeten, die sich auf Großer Fahrt befanden und Weihnachten nicht zu Hause sein konnten.
Wenn wir also den Anruf aus Ostfriesland über Todesfälle an Bord eines Schiffes bekamen, wussten wir, dass wir noch ein paar Stunden Zeit hatten, um uns für den Einsatz vorzubereiten. Wir brauchten einen Bestatter mit Leichenwagen, den Hafenarzt und die Wasserschutzpolizei (im Jargon »Entensheriffs« genannt) und trafen uns anschließend im Nordhafen am Kiel-Kanal, um auf das Schiff zu warten.
An einem Abend, es war schon spät im Herbst, standen wir wieder einmal frierend an der Pier und warteten auf den Frachter mit dem wunderschönen Namen »Golden Madonna«. Es war schon dunkel und feuchter Nebel kroch in unsere Bekleidung. Und dann kam das Schiff, ein schwarzes Frachtschiff, langsam aus dem »pottendicken« Nebel an die Pier. Als Schüler hatte ich den Film »Das Totenschiff« nach dem Roman von Traven (damals noch in schwarz-weiß) u.a. mit Mario Adorf im Kino gesehen. An diesen Film hatte ich mich sofort erinnert, als dieser schwarze Seelenverkäufer wie in Zeitlupe auf uns zukam.
Die Festmacher legten die Leinen um die Poller und die Mannschaft ließ die Gangway herunter. Und dann – plötzlich – sahen wir etwas, was niemand von uns jemals vorher und auch später nie wieder je gesehen hatte: Bevor wir an Bord gehen konnten, liefen und sprangen so an die acht bis zehn Seeleute von dem Schiff und liefen weg! Was war das denn, was sollte das? Hatten die Angst vor der deutschen Polizei?
Nun musste erst einmal jeder an der Pier (egal ob mit oder ohne Uniform), die Janmaaten wieder einfangen. Raus aus dem Nordhafen konnten sie sowieso nicht, denn – ich hatte es ja schon gesagt – es war ein Freihafen mit hohen Zäunen herum. Und durch den Zoll kamen sie auch nicht, denn sie hatten keine Pässe. Wie wir später erfuhren, hatte der Kapitän die in seinem Safe an Bord eingeschlossen. Die Leute erzählten uns in bestem Pidgin, dass sie flüchten wollten, weil der Kapitän und der Bootsmann die reinsten Menschenschinder seien. Sie hätten mehr Schläge als Essen bekommen. Das aber war kein Fall für die Kriminalpolizei, damit durften sich die Kollegen der Wasserschutzpolizei befassen.
Gleichwohl musste ich mich mit dem Kapitän unterhalten, der gerade einmal leidlich Englisch sprach.
»Pidgin«, oder auch »Pidgin-Inglish« genannt, ist eine Hilfssprache, mit der sich die Seeleute, die von Haus aus unterschiedliche Sprachen sprechen, unterhalten können. Das ist vorwiegend in der Seefahrt üblich, denn viele Besatzungen kommen aus Afrika oder Asien.
Die »Golden Madonna« war ein Frachtschiff aus einem Land mit einer sog. Billigflagge, das aus Marokko kam und Apfelsinen geladen hatte. Das Obst war nicht in Kisten oder Säcken verpackt, sondern lag lose im Laderaum! Zielhafen war St. Petersburg, die Ladung war also für Russland bestimmt.
Die Fahrt im Atlantik verlief nicht ruhig und problemlos. In der Biskaya hatte der »Blanke Hans« so richtig für diese Jahreszeit mit Orkan und meterhohen Wellen zugeschlagen. Manchmal fürchtete die Besatzung schon, ihr Dampfer ginge verloren.
Einer der Matrosen war im Laufe seiner vielen Seefahrten mit anderen Schiffen bei so einem schlechten Wetter mit großen Brechern und Kaventsmännern (Monsterwellen) bereits zweimal untergegangen und konnte jedes Mal nur kurz vor dem Ertrinken gerettet werden. Das wollte er nicht noch einmal erleben. Sein eigentümlicher Ausweg: Er erhängte sich an einem Bettpfosten in seiner Kajüte. Die Crew hatte sein Fehlen zuerst nicht bemerkt, sie hatte mit dem Manövrieren des Schiffes genug zu tun. Erst, als der Frachter wieder in ruhigeres Fahrwasser kam, fanden sie ihn. Sie banden seine Leiche los, wickelten ihn in ein Laken und seilten ihn mit einem Tau in den Laderaum ab.
Das, was uns der Kapitän erzählte, war auch ordnungsgemäß im Logbuch verzeichnet, korrekt mit Schiffsposition, Datum und Uhrzeit.
Nun war es an uns, sich mit dem Toten zu befassen. Der Kapitän zeigte uns die Luke, durch die es in den Laderaum runter ging, öffnete die Klappe und schaltete das Licht im Laderaum ein. Fünf bis sechs Meter unter uns konnten wir die Leiche, eingewickelt in ein weißes Laken auf den Apfelsinen liegen sehen. Ich hatte bereits ein Bein über der Kante und stand auf der obersten Stufe der eisernen Leiter, als der Kapitän sagte, ich müsste mich aber beeilen, weil im Laderum keine Luft zum Atmen sei. Statt Sauerstoff lag Kohlendioxid auf den Früchten! Das ist nötig, um die Reifung der Apfelsinen aufzuhalten und ein Verschimmeln zu vermeiden. Und so etwas gilt auch für jeden anderen verwesungsfähigen Organismus, zum Beispiel für