In den Kapiteln »NATO-Übung Bold Guard« und »Mord in der Luft« werde ich mich mit einigen Besonderheiten dieser Thematik befassen. Im Laufe meines Berufslebens waren diese beiden Fälle schon etwas Herausragendes. Über andere Ereignisse, die ebenfalls in diese Kategorie eingeordnet werden müssen, lohnt eine ausführliche Darstellung nicht, waren sie doch bei der Bearbeitung im Vergleich zu den wirklich spektakulären Vorfällen weder zeit- noch arbeitsintensiv und interessierten letztlich nur die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung.
Dazu gehörten z.B. der missglückte Start eines WESTWIND-Jets vom Lübecker Flughafen Blankensee, der zu militärischen Zieldarstellungen über der Ostsee fliegen sollte. Er bekam zu wenig Schub und konnte nicht abheben, andererseits gelang es den Piloten auch nicht, das Flugzeug noch vor dem Ende der Startbahn abzubremsen. Also rollte er in das angrenzende unbefestigte und mit Büschen bewachsene Gelände und kam erst dort zum Stehen. Auch wenn der Flieger äußerlich kaum Beschädigungen aufwies, war der Sachschaden doch erheblich.
Ein anderer Vorfall an demselben Flughafen, der ebenfalls nur Sachschäden zur Folge hatte, ereignete sich im August 1991. Nach einem Rundflug war für den Piloten der Piper-Sportmaschine und seine beiden Fluggäste der Flughafen schon in Sicht, als plötzlich der Motor stotterte. Durchstarten brachte nichts, der Motor fiel plötzlich ganz aus, kein Wunder bei Benzinmangel. Was folgte, war eine Bruchlandung im hohen Gras einer angrenzenden Wiese. Dabei wurden das Fahrwerk und der Propeller des einmotorigen Flugzeugs zerstört, der Pilot und seine beiden Fluggäste entstiegen dem Wrack unverletzt.
Doch nun zu dem Ereignis 20 Jahre zuvor, das ich mit »Notlandung auf der Autobahn« betitelt habe. Es war der schlimmste Unfall in der Fluggeschichte Schleswig-Holsteins, in Anbetracht der 22 Todesopfer kann man durchaus von einer Flugzeugkatastrophe sprechen (auch, wenn ich mit dem Wort »Katastrophe« stets sehr sparsam umgegangen bin). Der 6. September 1971 war ein Montag, das Wetter durchaus herbstlich, tagsüber manchmal etwas sonnig, aber nachts schon empfindlich kalt. Als der Anruf kam, wollte ich mich gerade auf den Weg zu meinem Friseur machen, um mein damals noch volles Haupthaar etwas stutzen zu lassen. Daraus wurde allerdings nichts! Die Mitteilung: »Flugzeugabsturz in Norderstedt!« veranlasste mich, erst einmal tief durchzuatmen. Ich hatte zwar schon Erfahrungen in der »normalen« Kriminalitätsbekämpfung, aber es war das erste Mal, dass ich mit einem Flugunfall zu tun haben sollte. Was würde die Kollegen und mich erwarten? Ich war noch Sachbearbeiter in dem Kommissariat für Todesermittlungen aller Art und für Kommissionsarbeiten (Mordkommission, Flugunfall-Kommission), hatte demzufolge noch keine Führungsentscheidungen zu treffen, und durfte darauf vertrauen, dass die Führungskräfte der Kriminalpolizei mir schon sagen würden, was ich im Einzelnen zu tun hätte.
Also machte ich mich schnellstens (ich gebe hier zu, unter Missachtung von Geschwindigkeitsregelungen) mit meinem Pkw auf den Weg von meinem Wohnort zur Behörde in die Landeshauptstadt Kiel. Das moderate Überschreiten von erlaubten Geschwindigkeiten konnte ich damals mit der Wichtigkeit des Einsatzes und dem zu heute nicht vergleichbaren geringen Verkehrsaufkommen mir selbst gegenüber rechtfertigen.
Mit zwei anderen Kollegen besetzten wir unseren Tatortwagen, einen blauen Opel-Blitz-Kastenwagen, und fuhren Richtung Süden nach Norderstedt im Kreis Segeberg, das in unserem Zuständigkeitsbereich lag. Heute wäre diese Fahrt einfach gewesen, aber damals gab es die Autobahn A 7 von Kiel nach Hamburg noch nicht. Sie war noch im Bau und erst wenige Kilometer von Hamburg aus in Richtung Norden fertiggestellt. Wir mussten über Bundesstraßen, durch Dörfer und Städte fahren und konnten uns leider wegen fehlender Warneinrichtungen (Blaulicht und Martinshorn) keine Vorfahrt verschaffen. Nachdem wir nach ca. 40 km die Stadt Neumünster passiert hatten, versuchten wir, Funkkontakt zu der Einsatzleitstelle in Bad Segeberg, Rufname »Kalkberg«, herzustellen. Wir wollten uns ordnungsgemäß in ihrem Funkkreis anmelden und das Ziel unserer Fahrt mitteilen.
Aber »Kalkberg« wollte nicht mit uns sprechen sondern wies uns an, uns bei »Rose« anzumelden. Rose?? Wieso Rose? »Rose« war der Rufname der Polizei im Landkreis Pinneberg, für den wir aber nicht zuständig waren. Waren wir evtl. auch für den Flugunfall nicht zuständig? Das klärte sich sofort, als wir uns daraufhin bei der Einsatzleitstelle in Pinneberg meldeten und durchgaben, dass wir auf der Fahrt zum Flugzeugunglück in Norderstedt waren. Wir erhielten die Bestätigung und wurden zugleich dahingehend korrigiert, dass das Geschehen sich nicht in Norderstedt, sondern in Hasloh im Kreis Pinneberg abgespielt hatte! Irgendwie machte sich bei uns Dreien so etwas wie Erleichterung breit! In der Tat war es so, dass sich die Kreisgrenze zwischen Segeberg und Pinneberg auf der Autobahn befand. Die westliche Richtungsfahrbahn nach Hamburg, also nach Süden, befand sich in Pinneberg, der in Richtung Norden führende östliche Autobahnteil gehörte zum Kreis Segeberg. Glück gehabt!! Aber trotzdem fuhren wir weiter, weil wir den Kollegen unsere Unterstützung und unseren Tatortwagen anbieten wollten. Und – ich gebe es gern zu – wir waren auch interessiert, zumal wir noch nie den Ort eines Flugzeugabsturzes (außer im Fernsehen) gesehen hatten. Man konnte ja immer dazulernen!
Wir nutzten zuletzt die fertiggestellte Strecke auf der Autobahn A 7 ab Kaltenkirchen und fuhren direkt »in ein Chaos«. Der Anblick war schlimmer, als wir erwartet hatten! Schon auf der Autobahn lagen Flugzeugtrümmer eines größeren Passagierflugzeugs der Fluggesellschaft »PanInternational«, darunter ein großes Teil des Leitwerks. Der total zerstörte Rumpf der im rechten Seitengraben liegenden Maschine qualmte noch, das abgerissene Cockpit lag auf einer Wiese neben der Autobahn; bis auf die Tatsache, dass es abgerissen war, waren keine Zerstörungen zu erkennen. Nicht nur Rettungsfahrzeuge aller Art von Feuerwehren und Rettungsdiensten waren in sehr großer Anzahl vorhanden, Kraftfahrzeuge einer unzählbaren Menge von Schaulustigen verstopften Straßen und Zufahrtswege, diese Leute standen auf und neben der Autobahn, also unmittelbar am und selbst im Geschehen, und befriedigten ihre Neugier, wobei sie alle Einsatzkräfte behinderten. Gaffer waren und sind auch heute noch ein großes Problem. Es war nicht ganz einfach, von der Autobahn zu einem Ort zu fahren, der nahe genug an der Unfallstelle lag und doch die noch folgenden Arbeiten nicht behinderte. Mehr als einmal hatten wir die Schaulustigen verflucht, die uns die Weiterfahrt versperrten, und nicht bereit waren, uns den Weg freizugeben. Ihre Neugier hatte für sie absolute Priorität!
Es waren Tausende von Katastrophentouristen, die bis in die tiefe Nacht dem Unglücksort zuströmten. Der riesige Rauchpilz und die heulenden Martinshörner der zu dem Ort eilenden Einsatzfahrzeuge waren auch in der nahegelegen Hansestadt Hamburg sehr gut zu vernehmen. Also lohnte sich ein Ausflug mit Kind und Kegel, mit Säuglingen in Tragetaschen und Kindern auf dem Arm oder auf den Schultern. Und nicht nur, dass man interessiert zugeschaut hätte, nein – einige dieser Leute nutzten das Chaos, um sich direkt zwischen den Trümmern, zwischen Flugzeug- und Leichenteilen und verstreutem Gepäck mit »Andenken« zu versorgen! (Ich behaupte, dass Sie es nicht nur auf Andenken abgesehen hatten, sondern auch um zu stehlen, was stehlenswert war!) Sie alle zu vertreiben gelang erst, als die inzwischen durch die Bereitschaftspolizei verstärkten Sicherheitskräfte und herbeigerufene Bundeswehreinheiten das Gelände weiträumig abriegelten. Da die Truppe auch über ein Stromaggregat verfügte, das ich auf Anfrage mitbenutzen durfte, konnte ich unseren Tatortwagen beleuchten und ihn betriebsbereit zur Verfügung stellen.
Wie immer in solchen Fällen, wenn die ganze Szene von Unübersichtlichkeit geprägt ist, vor allem, weil noch niemand der beteiligten Polizei- und Rettungskräfte einen derartigen Einsatz zuvor zu bewältigen hatte, gab es viel Leerlauf im Bereich der Polizei. Zunächst musste geklärt werden, dass die Hamburger Polizei, auch wenn die Beamten wegen der kürzeren Entfernung schneller am Ereignisort waren, außerhalb des »Ersten Angriffs« für die weiteren Maßnahmen nicht zuständig waren und keine Befehlsgewalt über alle eingesetzten Kräfte hatten. So langsam kehrte Ordnung ein. Als der Leiter des schleswig-Holsteinischen Landeskriminalamts dann die Leitung aller kriminalpolizeilichen Tätigkeiten übernahm, ging es zunächst darum festzustellen, wie viele Menschen bei diesem Unfall verletzt und ums Leben gekommen waren. Das war umso notwendiger, als auch noch Stunden nach dem Absturz keine Passagierlisten vom Flughafen zu bekommen waren. Also wurden alle Angehörigen der Kriminalpolizei unseres Landes über den Ereignisort, der wie ein Schlachtfeld aussah, geschickt, um Leichen zu zählen.