Was folgte, war eine groß angelegte Suchaktion bei jedem Wetter des beginnenden Herbstes in Wald- und Heidegebieten, und davon gab es reichlich viele und in Ausmaßen, die eine komplette Absuche fast unmöglich machten. Wir hatten manchmal das Gefühl, dass wir schon alle Bäume kannten und die Bäume und Sträucher uns. Trotz des monatelangen Einsatzes von Polizei-Hundertschaften und Suchhunden fand sich keine Spur des Mädchens. Auch meldeten sich trotz diverser Aufrufe im Fernsehen, im Rundfunk und in den Tageszeitungen keine Zeugen, die etwa Angaben zu dem Fahrzeug machen konnten, in das die Vermisste eingestiegen sein könnte. Auch die lobenswerte Hilfsbereitschaft der Bewohner der umliegenden Gemeinden brachte nicht den entscheidenden Hinweis. Unruhe und wohl auch Angst hatten sich in der Öffentlichkeit der betroffenen Gemeinden breit gemacht, so dass wir auf eine sehr große Hilfsbereitschaft stießen.
Es war und ist immer frustrierend, wenn über Monate trotz des Einsatzes von sehr vielen Beamten und einer umfangreichen Ausrüstung kein Erfolg zu verzeichnen ist. Jeder Einzelne und die gesamte Mordkommission stellten sich nicht nur in den täglichen Lagebesprechungen permanent die Fragen:
»Haben wir etwas übersehen? Lagen wir mit unserem Profiling der Täterpersönlichkeit richtig? Welche Maßnahmen könnten jetzt noch erfolgversprechend sein?«
Und irgendwann war es dann soweit, die Mordkommission wurde auch wieder aufgelöst. Bis auf wenige Ermittler, die »an dem Fall dran blieben«, gingen die übrigen Beamten wieder ihrem täglichen Routinegeschäft nach. Auch Raub, Diebstahl, Brandstiftung und der Zechbetrüger mussten bearbeitet werden!
Das änderte sich dann aber schlagartig, als nach knapp 8 Monaten spielende Kinder in einem Graben im Wald die teilskelettierte Leiche der bis dahin vermissten 16-Jährigen fanden. Ich muss dazu sagen – und das soll keine Entschuldigung sein –, dass bei den Ausmaßen und der Unübersichtlichkeit der Gelände eine 100-prozentige Absuche nahezu unmöglich gewesen war, und erst recht, weil es sich bei dem Fundort um eine sehr weit abgelegene Stelle in einer anderen Gemeinde gehandelt hatte. Schon der Anblick des Opfers bestätigte unsere damaligen Überlegungen, dass es sich um ein und denselben Täter handeln dürfte: er hatte die junge Frau teilweise entkleidet und ihre Bekleidung zerrissen! Eine brutale Vorgehensweise, die schon bei dem ersten Opfer festzustellen war. Und noch etwas bestätigte den Tatzusammenhang: Rechtsmediziner stellten Spuren einer Vergewaltigung und Tötung durch Einwirkung auf den Hals, durch Erdrosseln wahrscheinlich mit ihrer Strickjacke, fest. Wir hatten es also mit nur einem Sexualmörder zu tun!
Das Motto auch diesmal im Mai 1970 wieder: »Alles auf die Straße und in den Wald!« Dabei galt es nicht nur, Ermittlungen in diesem neuen Fall durchzuführen, sondern auch alle Ergebnisse der Befragungen, Vernehmungen, kurz sämtlicher Tätigkeiten auch mit den in vielen Leitz-Ordnern gesammelten Erkenntnissen des ersten Mordes an der 22-jährigen Frau vom Juni 1969 abzugleichen. Ich erinnere mich auch heute noch an den immensen Personalaufwand, mit dem wir versuchten, die aktuelle und auch noch die erste Tat aufzuklären.
Unruhe und Angst in der Bevölkerung, die schon beim Verschwinden festzustellen waren, wurden jetzt auf einen konkreten Grund zurückgeführt und verstärkten sich. Die schreibende Presse betitelte einen Artikel mit »Sommer der Angst«. Es war verständlich, dass derartige Taten das Sicherheitsgefühl der Menschen in der überwiegend aus kleineren oder größeren Dörfern bestehenden Region am nördlichen Stadtrand Hamburgs äußerst stark beeinträchtigten. Die ansonsten üblichen Verhaltensweisen wurden geändert, jeder versuchte mögliche Gefahrensituationen zu vermeiden. Kinder wurden zur Schule gebracht und wieder abgeholt, keine Frau spazierte abends oder nachts allein auf den Straßen, es herrschte breites Misstrauen besonders gegenüber Fremden . Und niemand wusste, ob nicht vielleicht der harmlose, immer freundliche und hilfsbereite Nachbar der Täter sein könnte. Diese Unruhe belastete ein bis dahin intaktes Gemeinschaftsleben und -gefühl.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein!« Nicht nur einem beteiligten Beamten der Mordkommission entfuhr dieser Satz, alle dachten das Gleiche und sprachen es aus. Noch während die umfangreichen Ermittlungen andauerten, wurde im Juli 1970 in Langenhorn, einem Stadtteil der Hansestadt Hamburg, eine junge Frau vermisst. Sie hatte gegen 23 Uhr die U- Bahn an der Station Langenhorn-Markt verlassen. Langenhorn grenzt im Norden an Schleswig-Holstein und damit an die Region, in der wir wegen der beiden vorherigen Morde immer noch sehr aktiv ermittelten. Die Zuständigkeit für die Ermittlungen in diesem neuen Vermisstenfall lag allerdings bei der Hamburger Polizei, denn, wie hieß und heißt es auch heute noch: »Polizei ist schön und Ländersache«. Auch wenn gedanklich durchaus Tatzusammenhänge konstruiert werden konnten, war eine Übernahme des Falles durch unsere Mordkommission weder rechtlich möglich noch durch die fehlenden Ortskenntnisse tunlich. Allerdings wurden in einem sehr intensiven Informationsaustausch alle Fakten gegenseitig mitgeteilt und eine enge Zusammenarbeit praktiziert. Es wäre fatal gewesen, wenn es hier durch Defizite zu Ermittlungspannen gekommen wäre. Das musste durch ständige Besprechungen vermieden werden. Wir waren uns aber damals schon mit den Hamburger Kollegen einig, dass man ein mögliches Verbrechen als Ursache des Verschwindens nicht ausschließen konnte, es sogar sehr wahrscheinlich war. Dementsprechend umfangreich waren auch die Suchmaßnahmen angelegt. Aber sie brachten keinen Erfolg, die Vermisste blieb zunächst verschwunden.
Die Bestätigung unseres Verdachts erhielten wir im September 1970, als die Leiche der 22-Jährigen in Langenhorn auf Hamburger Stadtgebiet gefunden wurde. Sie lag zwischen der U-Bahn-Station und ihrer Wohnung an einem Trampelpfad in einem Gehölz. Durch die lange Liegezeit und den dadurch veränderten Zustand konnte zunächst keine Todesursache festgestellt werden. »Die Auffindesituation und der Zustand der Bekleidung sprechen eindeutig für ein Sexualdelikt« teilten uns die Hamburger Kriminalisten mit. Auch ihre Versuche einen Tatverdächtigen zu ermitteln, blieben leider erfolglos. Sie hatten mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen wie wir.
Meine Zeit, sich mit der Bearbeitung dieser Serie von Sexualmorden zu befassen endete zunächst. Ich war für die nächsten Monate aus dem aktiven Dienst ausgeschieden und musste eine Fortbildung »mit beamtenrechtlichen Folgen«, wie es so schön in reinstem Amtsdeutsch hieß, absolvieren. Auf gut Deutsch: Ich wurde für die nächst höhere Laufbahn ausgebildet. Zum Glück hieß das nicht nur, in irgendwelchen Hörsälen den Bemühungen der Dozenten zu lauschen, die uns die jüngsten Erkenntnisse der Kriminalistik, der Kriminologie, der Kriminalpsychologie, der -soziologie und vieler anderer Unterrichtsfächer vermittelten. Das war nicht immer ganz einfach – für uns Lehrgangsteilnehmer! Wir waren es gewohnt, Aktivitäten »an der Front« zu entwickeln, haben den Stress, den die tägliche Arbeit natürlich mit sich brachte, als etwas Positives empfunden, egal ob auf den Knien in Wald und Heide, am Schreibtisch bei der Bewältigung der Papierflut oder im Umgang mit Zeugen oder Verdächtigen. Und jetzt saßen wir in Hörsälen und hatten mit der Müdigkeit zu kämpfen, wenn uns nach dem Mittagessen die Sonne auf den Rücken schien, die Augen zufielen und der Wunsch nach einem ordentlichen Mittagsschlaf unerfüllbar war!
Ich sprach vom »Glück«, das wir dennoch bei dieser theoretischen Ausbildung hatten. Unser Lehrgang war »Verfügungsmasse« für einen polizeilichen Großeinsatz, bei dem alle Teile der Landespolizei beteiligt werden mussten! Demzufolge endete die Ausbildung etwas früher. Ich darf erinnern: In der Zeit vom 26. August bis zum 11. September 1972 fanden die Olympischen Sommerspiele statt. Offiziell hießen sie »Spiele der XX. Olympiade«, die meisten Wettbewerbe fanden auf dem Olympiagelände in München statt. Die Wettbewerbe im Segeln dagegen wurden auf der Ostsee vor der Landeshauptstadt Kiel ausgetragen. Mit einem Kollegen war ich zum Personenschutz eingeteilt. Weltweite Prominenz – Präsidenten, Könige und andere Staatsoberhäupter, Minister und Regierungschefs – gaben »sich die Klinke in die Hand«; es war eine schöne Zeit, weil sie die Gelegenheit bot, an allen sportlichen und auch gesellschaftliche Ereignissen teilzunehmen. Gemeinsam mit den Personenschützern des Bundeskriminalamtes sorgten wir für die Sicherheit der VIPs, an Land, an Bord von Schiffen, bei Veranstaltungen.