Der Parkplatz ist fast leer. Wo ist das Auto bloß, wo ist der Golf? Unendlich weit ist er heute Vormittag gelaufen, nein, gerannt. Es ist zum Verzweifeln. Wo ist er? Dieses Gefühl vom Morgen, dieses schneidende Gefühl im Gedärm, macht sich wieder breit. Hier ist das Auto jedenfalls nicht, da drüben bei den Pappeln ist er über die Bahngleise gerannt. Dort läuft er hin und dann weiter, irgendwie. Nach Ewigkeiten sieht er seinen alten Golf. Er rutscht hinters Steuer und bleibt einfach sitzen.
Schließlich startet er Navi und Auto und biegt eine knappe Stunde später zu Hause in die Einfahrt. Es ist dunkel. Zum Schein der Straßenlaterne gesellt sich das flackernde Licht des Fernsehers aus dem Fenster. Die Autotür fällt zu. Eine Brise weht durch die nahen Buchen. Er setzt sich einen Moment auf die Stufen, hört dem Wind zu und es beruhigt ihn.
Lilly kommt ihm im Flur entgegen und er merkt, wie sie ein wenig erschrickt, und fragt: „Daniel schläft schon?“
„Ja. Wie war’s? Du siehst nicht gut aus, wirklich gar nicht gut.“
Der Fernseher ist aus und die Tischlampe taucht das Zimmer in anheimelndes Licht. Sie versinken in die Polster und er redet, zuerst von seiner verzweifelten Fahrt und der Suche nach einem Parkplatz. Die Sorgenfalten auf Lillys Stirn glätten sich ein wenig, als er von Frau Micha erzählt. Dann weiß er nicht weiter. Er kann nicht einfach so davon berichten und wie soll er auch reden von den Anblicken, die ihm so sehr zusetzen? Hat er ein paar Seminare verpasst? Wie soll er das jetzt machen? Er würde ja gerne vieles mit seiner Frau teilen, aber das geht wohl nicht. Auch das setzt ihm zu. Schließlich liegen sie beieinander, ihre Wärme beruhigt ihn und am Morgen ist diese Wärme seine erste Erinnerung, dieses Gefühl, in das er so gern versinkt.
Am Frühstückstisch suchen sie eine andere Strecke. Er ist pünktlich und erkennt die K30 nicht wieder, so viele Leute wuseln durch die Gänge, mit übermüdeten Gesichtern, aber irgendwie froh. Frau Micha erzählt es ihm: Sie haben die Geiselnahme in den frühen Morgenstunden zu Ende gebracht, ohne Verletzte, aber jeder Menge Arbeit für die Traumapsychologen.
„Ihr Chef will Sie sehen“, sagt sie. Er guckt fragend und sie fügt hinzu: „Von Ihrem Zimmer aus drei Türen weiter, auf der anderen Seite.“
Er eilt in sein Büro, stellt die Tasche auf den Stuhl und wirft die Jacke darüber. Sein Handy meldet sich. Es ist Richard Gerber.
„Sieht nicht schlecht aus. Bin gerade auf dem Weg in die Zulassung. Oder wollen Sie das selbst machen?“
„Nein, es sollte schnell gehen.“
„Ich rufe wieder an.“
Der Chef hat Augenringe. „Guten Morgen Herr Hämmerle, haben Sie wenigstens geschlafen heute Nacht? Wie steht’s?“
Er hört zu, ohne zu unterbrechen, aber Fritz Hämmerle ist sich nicht sicher, ob er tatsächlich zuhört, weil ihm die Augen zufallen. Als er schließlich mit dem Anruf von Richard Gerber endet, steht sein Chef auf und geht zum Fenster in die Sonne.
„Wir wissen also nicht, ob es Mord war oder die Folge von Panik. Reden Sie mit dem Pathologen. Wie hat sich dieser ominöse Riemen so weit zugezogen? Machen Sie das mit Herrn Haberland.“ Er wendet sich um. „Wann ist Herr Wetterer hier?“
„In einer Stunde.“
„Gehen Sie mit ihm in die Pathologie und vernehmen Sie ihn danach. Wir brauchen mehr Klarheit über sein Verhältnis zu Rita Kämpf. Den Sohn von dieser Frau im ersten Stock – wie heißt sie doch gleich?“
„Marcella … Der Nachname fällt mir jetzt nicht ein.“
„Den sollten Sie befragen, das sehe ich auch so. Und vergessen Sie Frau Le nicht, nicht nur wegen des Protokolls, das kann auch warten. Reden Sie mit ihr. Die Leute kriegen viel mit, halten es aber für nicht so wichtig.“
„Was mache ich, wenn Herr Gerber anruft?“
„Dann müssen Sie los, aber nicht allein. Ich habe nur im Moment niemanden … Wenn es so weit ist, gehen Sie zu Frau Micha, sie wird Ihnen jemand mitgeben. Haben Sie schon Ihre Waffe?“
„Nein.“
„Das schaffen Sie noch, bevor Herr Wetterer kommt. Herr Hämmerle, mir ist klar, es ist nicht in Ordnung, Sie so ins kalte Wasser zu werfen, aber wir konnten uns es alle nicht aussuchen.“
„Verstehe ich.“
„Morgen früh sehen wir, ob wir ein Team brauchen.“ Das Telefon in der Hand sagt er: „Frau Micha gibt Ihnen das Dokument für die Waffenkammer.“
Er verschwindet, schließt leise die Tür und ist überrascht, als Frau Micha ihm sagt, wo er hinmuss, und wiederholt verblüfft: „Unter dem Innenhof?“
„Mit dem Aufzug ganz nach unten, gleich links“, erklärt sie. Fritz Hämmerle hätte eher angenommen, hinter dieser Blindmauer, an der er schon vorbeigegangen ist, wäre der Sanitärbereich.
Er geht hinter dieser Mauer einige Stufen hinunter, muss einen Taster drücken und wird abgeholt. „Kommissar Hämmerle?“
„Ja.“
„Ihren Ausweis bitte.“
Dann steht er am Tresen und kommt sich fast wie im Hotel vor, nur ohne Schlüsselbrett. Er schiebt dem Kollegen mit den stark ergrauten Schläfen das Formular hinüber und bekommt im Gegenzug die Waffe.
„Halfter oder Gürteltasche?“
„Halfter.“
„Die ist übrigens was Besonderes, ist die vom alten Chef. Hat sie nie benutzt, nicht mal im Schießstand. Kann mich nicht erinnern, dass er jemals hier war. Wollen Sie sie probieren? Der Stand ist frei.“
Nicht nötig, will er sagen, weil er die von der Ausbildung kennt, aber er ist neugierig auf den Schießstand hier unten, selbst wenn er sich blamiert. „Ja, jetzt gleich?“
„Wie gesagt, er ist frei. Zehn Schuss?“
„Die Hälfte reicht.“
Der Kollege bleibt neben ihm und sieht zu, wie er die Patronen ins Magazin drückt. Er trifft tatsächlich zwei auf die Scheibe, ein Schuss geht fast ins Schwarze – na ja, wenigstens kein Totalausfall.
„Der Schießstand ist täglich besetzt, Dienstag und Donnerstag auch bis einundzwanzig Uhr.“
War da nicht eben ein mitleidiger Unterton herauszuhören? Er verschwindet schnell, bevor er hier noch rot wird. Vielleicht sollte er doch mehr trainieren.
Im Foyer meldet sich sein Handy mit einem verpassten Anruf. Herr Wetterer kann wohl nicht warten. Es war aber Richard Gerber.
In seinem Zimmer angekommen ist er außer Atem und ruft zurück. „Hallo, Herr Gerber. In der Waffenkammer ist ein Funkloch.“
„Es kommen nach der Beschreibung zwei infrage, das sind aber jetzt nur die in der Stadt und den angrenzenden Landkreisen.“
„Sagen Sie mir die Halter, ich schreibe mit.“
„Ivan Swoboda, Haydnweg 8.“
„Wo ist das?“
„Randgebiet im Westen und der zweite: Hubert Kessler, Am Kreuz 10, auch in der Stadt. Wo das ist, weiß ich nicht.“
„Danke.“ Er legt auf und schaltet den PC ein.
Das Festnetztelefon erschreckt ihn, es klingelt das erste Mal und es ist laut. Die Anmeldung ist in der Leitung, sehr ungehalten, weil sie wieder einmal die Hausanschlüsse der neuen Kollegen nicht mitgeteilt bekommen hat.
„Herr Wetterer hat einen Termin bei Ihnen?“
„Ja.“
„Holen Sie ihn bitte hier ab, danke.“
Kann nur am Haupteingang sein, denkt er und geht bei Frau Micha vorbei.
„Ich kann Ihnen nicht sagen, wer mit Ihnen kommt. Ihr Vorgesetzter ist gerade beim Chef.“
„Bin