„Eschenweiler liegt schon abgeschieden, aber Riedbach ist noch viel schlimmer, wie ein Adlerhorst über dem Wald, und dazu noch das Hochmoor“, sagte der Wachtmeister und redete weiter, als das erste große Holzhaus zwischen den Fichten auftauchte: „Hier ist die alte Försterei.“ Sie kamen aus dem Wald heraus und nun wuchsen auf beiden Seiten lange Reihen Jungpflanzen verschiedener Bäume. „Die gehören zur Baumschule. In der Baumschule und im Forstbetrieb arbeitet halb Riedbach.“
„Und die andere Hälfte?“
„Rentner. Einer von denen, Alwin Osterwald, hat in seinem Haus die Naturschutzstation. Er ist einundachtzig und macht das seit eh und je. Seine Enkelin hat sich bei ihm eingenistet und macht das vielleicht weiter. Dann gibt es noch den Adler mit vielen Fremdenzimmern und einem halben Dutzend Blockhütten im Wald. Das war’s dann auch schon. Einige fahren neuerdings vielleicht auch in die Stadt.“
„Kennen Sie sich überall so gut aus?“
Der Wachtmeister lachte. Hatte er schon mal gelacht?
„Nach der Polizeischule bin ich aus Eschenweiler nicht rausgekommen. Hier oben wohnten bis vor zehn Jahren noch meine Schwiegereltern und den Pfad nach Riedbach gab es vor vierzig Jahren auch schon.“
„Ach, so war das. Wie viel Paar Schuhe?“
„Schuhe?“
„Wie viele haben Sie durchgelaufen?“
„Ach, das meinen Sie. Keins, wir mussten schnell heiraten und wohnen seither in Eschenweiler.“ Mittlerweile hatten sie das Gasthaus passiert. „Hier rechts haben meine Schwiegereltern gewohnt und danach kommt nur noch Alwins Haus, also das der Osterwalds.“
Links waren noch Felder der Baumschule und rechts ein langgezogener Parkplatz mit nur drei PKWs. Die Autos standen sozusagen fast im Hochmoor.
Der Frühnebel hielt sich dort. Wipfel abgestorbener Bäume ragten gespenstisch über das weiße Meer und ließen sich von der Sonne trocknen. Durch den Nebel waren die runden Umrisse von Weidenbüschen zu erahnen, wie im Moor halb versunkene große Murmeln.
Der Weg wurde holprig, der Wald dicht und düster, die Stämme der Fichten drängten gegen den Weg, ihre Wipfel weit über ihnen. Dünne Sonnenstrahlen fielen durchs Gehölz und brachten hier und da die braune Rinde zum Leuchten. Dunst quoll gemächlich durch dieses Licht. Am Ende dieses Tunnels aus alten Fichten wurde es hell. Dort standen Buchen mit ihren hellgrauen Stämmen. Sie fuhren auf einem Teppich rostroter Blätter.
Hier begann der Zaun und Maik Haberland hielt am Tor, das verschlossenen war mit einer rostigen Kette.
„Wie gesagt, der Schlüssel ist verschwunden“, sagte der Wachtmeister. „Weiter vorn ist das Loch.“ Sie fuhren, bis der Weg sich nach links vom Zaun entfernte. „Das Auto lassen wir hier.“
Maik lächelte, als er Wachtmeister mit seinem Korb ausstieg. Er selbst trug Seil und Gürtel.
Dann stiegen sie durch das Loch im Zaun und das dicke Buchenlaub hinab. Die übrigen dürren rostroten Blätter in den Zweigen hinderten nicht den Blick ins Nichts, das an der senkrecht in die Tiefe abfallenden Wand begann. Er erinnerte sich an das Bild von Rafi auf seinem Bildschirm, wie er die Abbruchkante heranzoomte, diese letzten ziemlich steil abfallenden Meter vor der Wand, die durch das niedrige Gehölz schon zu erahnen waren.
Hier standen sie jetzt mit den großen Buchen im Rücken. Ab hier fiel es wirklich schon steil ab und es wuchs dieses dichte, knotige Gestrüpp. Sie gingen nach links. Wenn hier jemand den Halt verlöre, würde er im Gestrüpp mit Sicherheit hängen bleiben.
Maik, der als Erster ging, rutschte plötzlich ab. Blitzschnell griff Süß zu. Fritz Hämmerle stand wie angewurzelt da und wurde blass. Die beiden saßen schließlich erschrocken auf dem Boden und Maik schaute den Hang hinauf. „Ich habe zum Steinbruch geguckt und bin in diese Rinne getappt. Hier fließt sicher Wasser, wenn es viel regnet. Da, wo das Laub die losen Kiesel tückisch zudeckt, ist man schnell reingetreten. Wie aus dem Nichts wegzurutschen … Ich fass es nicht, aber hier kann man wirklich abstürzen.“
„Wir sind hier über der Fundstelle“, sagte Wachtmeister Süß, „ungefähr jedenfalls.“
„Gibt es noch mehr solche Stellen?“, fragte Maik. „Gehen wir noch ein Stück und sehen nach.“
„Ich kann es allein erkunden und sie beginnen hier“, bot Süß an. „Das Gestrüpp hört nach meiner Erinnerung erst am Ende des Steinbruchs auf.“
Fritz Hämmerle schaute auf sein Handy. „Hier oben gibt es Empfang. Rufen Sie uns an, falls Sie noch weitere solche Stellen finden.“
Wachtmeister Süß nickte, nahm seinen Korb und ging.
Maik stieg in den Klettergürtel und zeigte Hämmerle, wie er ihn sichern sollte. Und damit hatte er dann zu tun, denn Maik trat auf halber Strecke in diesem Bachbett eine Lawine aus Geröll und Laub los, die in die Tiefe polterte. Maik hing im Seil, er hätte sich sonst kaum halten können.
Als Maik fast wieder nach oben geklettert war, heftete sich sein Blick auf eine junge Buche. Er suchte sich dort einen festen Tritt und zog aus seiner Innentasche einen Plastikbeutel.
„Du hast das Ende von dem Ast abgeschnitten und eingesteckt?“
„Ja, vorsichtshalber. Vergiss nicht, mich festzuhalten, ich bin noch nicht oben.“ Er hielt das Stück Holz an den Baum. „Das passt genau, der Ast ist von hier. Er ist vielleicht ebenso abgerutscht wie ich, hat versucht, sich festzuhalten, und konnte sich den Ast greifen, aber der Ast riss ab und dann gab’s kein Halten mehr.“
Maik packte das Stück vom Ast wieder ein und sagte, während er den Gürtel ablegte: „Wir machen einen Abdruck. Das Zeug dafür ist aber im Auto.“
„Wir müssen also nach oben und dann wieder runter?“
Maik nickte, griff zum Handy und erklärte es dem Wachtmeister, der seinerseits auch noch etliches zu erzählen hatte.
„Es gibt keine weiteren solchen Stellen, sagt er. Er kommt dann direkt zum Auto. Man kann einfach nirgendwo abstürzen, außer hier.“
„Also brauchen wir nur noch den Namen des alten Herrn und dann ist der Fall abgeschlossen“, sagte Fritz Hämmerle.
„Sieht so aus.“
Als sie das zweite Mal zum Auto kamen, war Wachtmeister Süß schon da, den Korb voller Pilze. „Ich weiß, wir haben Marschverpflegung dabei, trotzdem schlage ich vor, in Riedbach zum Adler zu gehen. Da kocht der Chef und macht uns die Pilze.“
Maik blickte skeptisch in den Korb. „Herr Süß, sind Sie sich sicher?“
„Ich sammle schon vierzig Jahre Pilze und wir hatten in der Familie noch keine Ausfälle, alle haben mitgegessen. Aber ich kann Sie beruhigen, es ist ein spezielles Angebot vom Adler, die Pilze der Gäste auch zuzubereiten und der Wirt ist anerkannter Pilzsachverständiger.“
„Fritz, du bist der Chef. Es ist grade mal zehn.“
Fritz Hämmerle fragte: „Was meinen Sie, Herr Süß, die Leute, die hier oben wegen Pilzen unterwegs sind und von außerhalb kommen, wie wahrscheinlich ist es, dass die im Adler wohnen?“
„Die meisten wohnen dort.“
„Im Einzugsgebiet wird niemand vermisst, also könnte der verunglückte Pilzsucher ein Gast von weiter her sein. Sehen wir uns die Gästelisten des Adler an.“
Fritz Hämmerle sah in die Gesichter seiner beiden Mitstreiter und selbst Maik schien nichts dagegen zu haben, er selbst sowieso nicht, also fuhr er fort: „Es spricht demnach nichts dagegen, die Pilze währenddessen in der Pfanne brutzeln zu lassen.“
Wachtmeister Süß wurde im Adler mit großem Hallo begrüßt. „Was, du bist im Dienst und hast ein Korb voll Pilze? Suchst du einen schuldigen Giftpilz?“
Das hatten sie nicht bedacht. Wenn sie jetzt in der Gaststube plauderten, war es