Nicolae: An der Quelle - Band 7. Aurelia L. Porter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Aurelia L. Porter
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Nicolae-Saga
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347053854
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Nacht hatte ich seltsame Träume. Was mich wundert, denn ich hatte eigentlich den Eindruck, nicht ein Auge zugetan zu haben. Naja, es knackte überall und der Wind pfiff durch die Fensterritzen. Ringsumher sind nichts als Wiesen, Felder und Weiden sowie ein Wäldchen. Wenn Mutti wüsste, dass ich hier so ganz abgeschieden hause und dann auch noch in einem fremden Land …

      Ich muss wahnsinnig sein! Wenn mir etwas passierte, könnte ich noch nicht einmal Hilfe holen. Das Cottage liegt total im Abseits. Um in den Ort zu gelangen, muss ich einen fünfzehnminütigen strammen Fußmarsch hinlegen. Tagsüber ist es hier richtig idyllisch, ich könnte splitterfasernackt sonnenbaden, wenn ich nicht so eine helle Haut hätte. Aber nachts …

      Vielleicht lag es auch nur an dem fettigen Fisch, der mir im Magen lag. Oder an meiner Bettlektüre, die mich so unruhig schlafen ließ.

      Judith scheint unverrichteter Dinge nach Hause zurückgekehrt zu sein, zu ihrem Edward. Ohne Erklärung. Zu meiner großen Enttäuschung klafft in ihrem Tagebuch eine Lücke von sage und schreibe fünf Jahren! Ich werde also niemals erfahren, was geschehen ist.

      Erst Ende 1890 erfolgt der nächste Eintrag. Nichte und Neffe samt dem Grafen weilen zu jener Zeit wieder in London, bzw. in Hampstead Heath, wo sie ein altes Herrenhaus im Tudor-Stil bewohnen.

      Judith spricht von Güte und Harmonie – von Liebe kein Wort!

      Wodurch sie wohl wieder zur Besinnung gekommen ist? Schade. Und doch trauert sie heimlich ihrer wahren Liebe nach.

      Ein paar Seiten weiter schildert sie etwas Unfassbares: Ein Attentat wurde auf die Familie verübt! Glücklicherweise konnten sich alle in Sicherheit bringen und in ihrem Heimatland untertauchen, wo auch immer das sein mag. Und als wäre das nicht schon schlimm genug – zumindest einen Tagebucheintrag wert! –, deckt Judith hinterher Ungeheuerliches am verlassenen Tatort auf, an dem nur ein kläglicher Rest an Dienerschaft zurückgeblieben ist. Die meisten sind vor Entsetzen geflohen. Es wird stellenweise derart abstrus, dass ich die Zeilen mehrfach lesen musste, weil ich dachte, sie missverstanden zu haben. Demnach gab es bei dem Überfall – Judith spricht von einem hinterlistigen Anschlag – zwei Tote: der alte Gärtner und ein Stallknecht. Diese hatten ihrer Herrschaft wohl zu Hilfe eilen wollen. So ganz habe ich die Zusammenhänge jedoch nicht begriffen. Es las sich so, als ob das jüngste Kind der Familie entführt werden sollte. Der geschockte Gärtnersohn, der seinen Vater hat sterben sehen, spricht Judith gegenüber von Reitern mit Fackeln und Schwertern, wildem Gemetzel und einem Wald von Gepfählten. – Na, er wird wohl zu viele Horrorfilme im Kino gesehen haben. Obwohl es damals so etwas doch noch gar nicht gab, oder?

      Judith war jedenfalls unerschrocken genug, den Ort des Grauens in Augenschein zu nehmen. Wie nicht anders erwartet, konnte sie nichts entdecken – keinen einzigen Pfahl, keine einzige Leiche. In seiner Panik hatte sich der arme Junge das wohl nur eingebildet.

      Ich meine … Gepfählte, also bitte! Ich weiß nicht, ob Bram Stoker seinen „Dracula“ zu dem Zeitpunkt bereits veröffentlicht hatte, ich glaube eher nicht. Ansonsten hätte ich vermutet, dass dem Jungen nach einer solchen Lektüre die Fantasie durchgegangen ist. Wahrscheinlich fehlte ihm eine Mutter wie die meine, die ihn ständig ermahnt, zur Abwechslung mal etwas Anständiges zu lesen.

      Was das denn bitte schön sei?, habe ich Mutti unlängst gefragt.

      Na, so was wie „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm oder „Der Mann im Strom“ von Siegfried Lenz.

      Nur weil sie im Bertelsmann-Lesering ist! Komisch, ich habe sie noch nie mit der angepriesenen Lektüre vor der Nase angetroffen, die zieren lediglich unser Bücherregal. Umso häufiger blättert sie in Illustrierten, wenn es wieder irgendwelche Skandalgeschichten um Liz Taylor gibt oder Sophia Loren auf dem Titelblatt prangt. Die Hören und Sehen gehört ohnehin zu ihrer Lieblingslektüre, sobald Nadja Tiller in ihrem Nerz oder Lieselotte Pulver mit ihrem Bubikopf vom Titelblatt lächelt. Dabei haben wir nicht einmal einen Fernseher! Zum Fernsehen gehen wir immer zu ihrer Freundin rüber, die im Nebenhaus wohnt. Deren Mann hat oft Nachtdienst, dann dürfen wir seinen Platz einnehmen.

      Aber jetzt bin ich völlig vom Thema abgekommen.

      Jedenfalls kamen Judith nach dem geschilderten Horrorszenario verstörende Bilder in den Sinn, als hätte sie etwas Derartiges schon einmal mit eigenen Augen gesehen – in einem Traum, in einer Vision, auf einer Reise? Auf jeden Fall in einem Wald. Deshalb war sie geneigt, dem Jungen zu glauben.

      Erst ein halbes Jahr später folgt der nächste Tagebucheintrag. Von einer Miss Farrell ist dort die Rede, der Judith zur Flucht verhelfen soll, weil die Attentäter nun auch hinter ihr her seien, da sie eine Freundin des Hauses gewesen sei und um die Natur der Familie wisse. Was soll das denn heißen?

      Dann wird es immer verworrener. Zwei Absätze weiter verdächtigt Judith plötzlich ihren Ehemann. Wessen, begreife ich allerdings nicht. Des Verrats! Verrat an wem? An der Familie? An ihr? Und wieso? Worum geht es da eigentlich?

      Ich glaube, ich war zu müde, um dem folgen zu können. Ich werde die Passagen nachher noch einmal lesen.

      Mein ewig knurrender Magen holt mich in die Gegenwart zurück. Es ist heiß heute. Ich habe es mir unter dem grünen Dach der Linde gemütlich gemacht, wozu ich erst einmal mit einer kleinen Sichel, die ich im Schuppen fand, den Urwuchs bekämpfen musste. Scharf ist sie natürlich nicht mehr, darum konnte ich mein Plätzchen damit nur plattklopfen.

      Vorhin war ich einkaufen und habe mich mit einer Schachtel Pall Mall Blue, einem Schokoriegel – Cadbury’s Dairy Milk für die Extraportion Milch! – und einer Tüte Lakritz ausgestattet. Obendrein eine Packung Kaugummi. Das muss eine Weile vorhalten.

       Am Nachmittag

      Ich bin unter der Linde eingeschlafen. Kein Wunder, viel Schlaf habe ich in diesem Land bisher nicht bekommen.

      Gleich werde ich auf die Promenade gehen und mir in einem dieser überteuerten Hotels ein Abendessen gönnen. Irgendwann muss ich ja mal etwas Vernünftiges zwischen die Zähne bekommen, sonst falle ich noch ganz vom Fleisch, wie Mutti sagen würde. Nur Süßigkeiten und Zigaretten sind auf Dauer auch keine Lösung – obwohl Zucker ja zaubern soll!

       Spät am Abend

      Ich wünschte, meine mir unbekannte Tante wäre schon da! Gleich, wie steif ihre Oberlippe auch sein mag, und selbst wenn sie mir das Kaugummikauen und Rauchen verbieten sollte, ich nähme alles in Kauf, um nicht länger alleine zu sein.

      Nein, mir ist kein Tommy über den Weg gelaufen, der mir auf den Leib gerückt wäre – leider nicht! Aber vielleicht ein Geist.

      Ich habe unten am Strand gesessen, in einer kleinen Bucht abseits des öffentlichen Badebetriebes. Es war sehr schön dort. Von einem Felsen, der halb ins Wasser ragt, sah ich zu, wie die letzten Sonnenstrahlen im Meer versanken – echt romantisch! Sie tauchten die Kreidefelsen von Dover, die man von dort sehen kann, in ein rosa Licht. Meine Freundin Gisela wäre ausgeflippt vor Begeisterung. Sie hat’s nämlich mit der Malerei und ein Faible für kitschige Postkartenmotive. Ich darf nicht vergessen, ihr eine zu schicken. Jedenfalls wurde das Rauschen der Brandung allmählich leiser. Der Wind hatte nachgelassen und eine friedvolle Stille breitete sich aus. Eine Möwe, die an der Wasserkante nach Nahrung suchte, flog plötzlich wie aufgescheucht davon. Da war mir, als summte jemand ein Lied. Ich sah mich suchend um. Aber der Strand war leer. Schon dachte ich, ich hätte es mir nur eingebildet, da vernahm ich die Töne wieder. Und selbst jetzt bekomme ich die Melodie nicht aus meinem Kopf. Das Eigenartige daran ist, dass sie mir bekannt vorkommt, obwohl ich schwören könnte, sie nie zuvor gehört zu haben!

      Was hat das zu bedeuten?

      Als es dunkel wurde, habe ich den Strand verlassen. Für den Weg die Klippen hinauf reichte das Tageslicht gerade noch aus. Oben am Küstenweg hatte ich hinter einem Ginsterbusch ein Fahrrad deponiert, das ich vorhin im Schuppen unter einer Plane gefunden hatte. In einem der Regale lag sogar noch eine eingesponnene Luftpumpe. Es muss ein furchtbar altes Vehikel sein, so schwer, wie es sich treten lässt. Aber immerhin fährt es, trotz rostiger Kette. Gerade als ich für den Heimweg den alten