Vormittag
Was für eine Bruchbude! Und ich werde sie nicht einmal verkaufen können. Dafür gibt mir doch keiner auch nur eine Zehn-Pfund-Note! Bestimmt ist der Wurm drin. Zumindest im Gebälk, das unentwegt knackt.
Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, allein herzukommen. Und auch noch hier zu nächtigen! Es zieht durch jede Ritze. Die Dielen knarren zum Gotterbarmen. Und von den Wänden bröckelt der Putz.
Sicher, ich hätte das für mich reservierte Zimmer im Palace Hotel beziehen können, aber ich fühlte mich dort fehl am Platz. Zu vornehm, zu viele steife Oberlippen – und das bereits an der Rezeption! Ich reise schließlich ohne Golfschläger.
Also habe ich mich mit der Adresse und dem Schlüssel in meiner Tasche auf die Socken gemacht. Ich musste mehrfach nach dem Weg fragen. Die meisten schüttelten nur bedauernd den Kopf und rieten mir, beim Postamt nachzufragen.
Kein Wunder, die heruntergekommene Bude ist von der Landstraße aus nicht zu sehen, weil sie vollständig von Wildnis umwuchert ist. Sie muss seit Jahrzehnten unbewohnt sein. Als ich sie endlich entdeckte, weil ein kleiner Junge, der hier öfters mit seinen Freunden zum Spielen herkommt, mir den Weg gewiesen hat, wurde es bereits dunkel.
Noch nicht einmal elektrisches Licht gibt es hier! Immerhin fand ich ein paar Kerzen in einer verzogenen Tischschublade, die ich nur mit Mühe aufbekam. Ein Feuerzeug hatte ich selbst dabei.
Die Nacht habe ich auf dem durchgesessenen Sofa verbracht. Jetzt tut mir jeder Knochen einzeln weh. Zum Frühstück hatte ich ein paar Hände voll frisch gezapften Brunnenwassers, einen Mars-Riegel, den ich noch in meiner Tasche fand, und eine Zigarette – Den Duft der großen weiten Welt. Ein Passagier auf dem Fährschiff bot sie mir an. „Willst ‘ne Lulle?“, versuchte er mich einzulullen. Ihm gefiel wohl mein wippender Pferdeschwanz, oder die Art, wie ich an der Reling stand und mein Gesicht in die Sonne hielt, auf dass die Sommersprossen auf meiner Nase aufblühen wie Buschwindröschen. Ich begrabe sie jeden Morgen unter einer dicken Schicht Puder. Auch wenn Doris Day sie salonfähig gemacht hat, mich stören sie.
Ich hab Peter Stuyvesant eingesteckt und den Typen stehen lassen.
Mutti sagt, ich darf nicht mit fremden Männern sprechen.
In der Küche fand ich später eine Büchse mit Scottish Shortbread –hart wie Stein. Ein paar Krümel schwarzer Tee waren auch noch da, aber woher soll ich wissen, ob nicht Mäusekötel dazwischen sind? Der runde Deckel in der eckigen Dose war zwar festgerostet, sodass ich ihn nur gewaltsam mit einem ebenso angerosteten Schraubenzieher aufbekam, der in einer der Küchenschubladen vor sich hin rottete, aber man kann ja nie wissen …
Nachher werde ich in den Ort gehen, mir etwas zu essen kaufen und eine Telefonzelle suchen, damit ich zu Hause Bescheid geben kann, dass ich gut angekommen bin. (Die sind hier übrigens rot statt gelb.) Danach werde ich die Nummer meiner englischen Tante wählen, von deren Existenz ich erst seit ungefähr einer Woche weiß. Es war so etwas wie ein Überraschungsgeschenk zur bestandenen Prüfung an der Höheren Handelsschule. Hurra! Ich will nicht undankbar erscheinen, aber wer in meinem Alter träumt nicht eher von einer Vespa? Stattdessen kam ein Umschlag mit der Post, auf der Briefmarke Queen Elizabeth II. Er enthielt eine Hotelreservierung, die Abschrift eines Erbscheins, einen Schlüssel mit Adresse und die Telefonnummer meiner bis dahin unbekannten Tante.
Nachmittag
Ich soll sie Nelly nennen, und sie will versuchen, am Wochenende anzureisen – jedenfalls ist es das, was ich verstanden habe. Mein Schulenglisch ist anscheinend doch nicht so gut, wie ich dachte. Zudem hat der Schlitz im Telefonapparat die Münzen nur so gefressen, sodass das Klimpern Auntys Stimme übertönte. Tante Nelly. Na, so was! Bin gespannt, aus welcher Versenkung sie so plötzlich aufgetaucht ist. Mutti hat sich dazu ausgeschwiegen. Meine Tante würde mir dann alles erklären. Mit diesen Worten überreichte sie mir eine Fahrkarte für die Eisenbahn und eine für die Fähre. Ab Dover fahre ein Zug.
Ich staune immer noch, dass sie mich hat alleine reisen lassen, wo ich doch bis vor Kurzem kaum einen unbegleiteten Schritt außer Haus setzen durfte, weil einem jungen Mädchen wie mir überall Gefahren drohen. Was Wunder, bei den engen Röhrenhosen, in die ihr euch zwängt. Die müssen die Kerle ja ganz kirre machen. Und dann all diese Rocker heutzutage! Sagt die mit der geblümten Kittelschürze und den Lockenwicklern im Haar. Richtig, der obligatorische Schrubber in ihrer Hand fehlte nicht! Aber sie kann auch auf chic mit ihrem Cocktailkleid von Neckermann und den spitzen Pumps mit Pfennigabsätzen, die auf dem Straßenpflaster so laut klappern, weil sie sie der längeren Haltbarkeit wegen mit Metall hat beschlagen lassen. Sie sind ihr ganzer Stolz. Ebenso wie ihre Zigarettenspitze, aus der sie damenhafte Züge nimmt, wenn wir mal in Gesellschaft verkehren, was selten genug vorkommt.
Abend
Es ist herrlich am Wasser. Aber ich mochte mich dort vorhin nicht im Bikini zeigen, sonst habe ich, so allein und unbeschützt ich bin, gleich zwei Tommies an jeder Backe kleben. Lieber warte ich, bis der Strand sich leert. Es ist ohnehin eine schönere Stimmung dann.
Stattdessen habe ich die Bude gelüftet und alles verspakte Gerümpel in den Garten geschleppt. Viel ist nicht zurückgeblieben an brauchbarem Mobiliar, vom Inhalt ganz zu schweigen. Man müsste die Hütte plattmachen, einfach abreißen und neu bauen. Aber wovon?
Der Garten ist gar nicht mal so übel. Verwildert zwar, aber es ließe sich bestimmt etwas daraus machen, wenn man was davon versteht. Ich verstehe nichts davon, denn ich bin in einer Mietswohnung groß geworden. Einen Balkon haben wir, mit ein paar Geranientöpfen am Geländer. Sie erinnern Mutti an Italien, sagt sie, und den azurblauen Himmel dort – obwohl sie den nur aus Caterina Valentes und Adriano Celentanos Schlagern kennt.
Eine weitere Nacht auf diesem furchtbaren Sofa steht an. Vielleicht sollte ich lieber auf dem Fußboden schlafen …
Es gibt noch zwei winzige Schlafräume mit richtigen Betten, aber in den Matratzen wohnen die Motten. Igitt!
Mutti hatte mich gewarnt, die Engländer hätten es nicht so mit der Reinlichkeit. Okay, ich muss nicht vom Fußboden essen können wie bei uns zu Hause, wo Mutti alles mit Ata scheuert und mit Sagrotan nachbearbeitet, sodass nicht der winzigste Keim eine Überlebenschance hat, aber das hier …? Zumutung – lautet das Wort, das mir dazu einfällt.
Naja, ich hätte es ja wesentlich luxuriöser haben können im Hotel. Aber hier kann ich wenigsten tun und lassen, was ich will, ohne dass ich mich an irgendwelche Anstandsregeln halten muss, von denen ich
ohnehin wenig Ahnung habe. Es ist sehr angenehm, mal ohne Muttis ewige Ermahnungen einfach nur in den Tag hineinzuleben.
Sitz gerade, sonst kriegst du einen Buckel! Nimm den Kaugummi aus dem Mund! Schlag die Beine übereinander! Mach den Mund zu, es zieht! Und vor allem: Lächle, sonst kriegst du keinen Mann!
Warum hat mir mein unbekanntes Tantchen nicht einfach ein Bed & Breakfast an der Promenade gebucht, mit einer typisch englischen Landlady, die mich nach Strich und Faden verwöhnt? Das hätte ich mir gefallen lassen! Orange juice und ham and eggs zum Frühstück kenne ich nur aus dem Englischbuch in der Schule. Zu Hause gibt’s immer Marmeladenbrot zum Caro-Kaffee und sonntags auch mal Rosinenstuten mit einem hart gekochten Ei. Klöben, sagt Mutti dazu, und zum Kaffee Muckefuck. Echten können wir uns nicht leisten, den gibt’s nur zu Feiertagen.
Zum Abendbrot werde ich mir eine kalte Fleischpastete reinwürgen, und sie mit Cola runterspülen. – Wenn das Mutti wüsste!
TAG 2
Am Morgen
Ich bin völlig gerädert. Und aufgeregt!
Gestern Abend, als ich mich aufs Sofa hauen wollte, bin ich über die jetzt frei liegende Teppichkante gestolpert. Sie blieb umgeschlagen liegen. Als ich sie wieder richten wollte, fiel mein Blick auf eine lose Bodendiele unterhalb des Sofas. Darum schob ich es ein wenig zur Seite. Etwas Helles schimmerte aus dem Spalt