Er entstammte einer elfköpfigen Familie, in der jeder arm, manche auch krank, aber niemand ohne Glaube oder Hoffnung war. Er hatte keine Kriege, Hungersnöte oder Heimsuchungen erlebt, außer denen, die einen in einem kleinen Dorf sechzig Kilometer westlich von Florenz in Italien ereilen konnten. Auch erfuhr er nie die Erleuchtung, dem Weg Gottes zu folgen. Als Junge war Amerigo einfach nur fasziniert von Gott und allem, wofür er stand: Das Gute, die Geborgenheit und die Fähigkeit, über andere zu herrschen und sie ins Licht führen zu können.
Außerdem träumte er davon, Predigten zu halten und das Word Gottes zu verkünden.
Seinem Vater waren diese Wünsche fremd, und deshalb zwang er seinen Sohn, zusammen mit seinen Brüdern auf den Feldern ihres Hofes zu arbeiten. Er wusste, dass sich der wahre Wert eines Mannes eher an der Menge des Getreides bemaß, die er einbringen konnte, und weniger an akademischem Wissen, welches einen Mann in ihrem Dorf nirgendwohin brachte.
Und so war aus Amerigo Giovanni Anzalone, der Zuhause von seiner Mutter unterrichtet worden war, alle Passagen der Bibel gelesen und auswendig gelernt hatte, die Grundlagen der Mathematik studierte und über ein Jahrzehnt zusammen mit seinen Geschwistern auf den Ackern arbeitete, ein gebildeter Mann mit schwieligen Händen geworden. Und er kam zu dem Schluss, dass es nicht seine Berufung war, Felder zu bestellen.
Jeden Sonntag ging er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in die Kirche. Und in den Tagen dazwischen, wenn er unter der brennenden Sonne den Ackerboden bearbeitete, träumte er davon, das Ornat eines Priesters zu tragen und Predigten zu halten. Wonach Amerigo suchte und was er brauchte, war der Zuspruch der Kirche, ihm dafür den richtigen Weg zu weisen.
Nach seinem achtzehnten Geburtstag und entgegen dem Willen seines Vaters – aber mit Unterstützung des Dorfpfarrers, gegen den sein Vater nicht aufbegehren wollte – gab Amerigo das Landleben auf und besuchte die theologische Universität in Florenz. Sein erster Schritt auf dem Weg nach Rom.
In den folgenden Jahren wurde Amerigo zum Kardinal ernannt und ein angesehenes Mitglied der Kurie, was schließlich dazu führte, dass ihn das Kardinalskollegium als Nachfolger für Johannes Paul den Zweiten vorschlug. Mit seiner Zustimmung nahm Amerigo den Namen Papst Pius XIII. an.
Und genau wie sein Vorgänger wollte Amerigo jeder Rasse und jeder Religion die Hand reichen, niemanden auslassen, niemanden allein lassen. Er wollte die Welt in Liebe und Toleranz umarmen und mit den Vereinigten Staaten den Anfang machen.
Mit diesen Gedanken schlief Papst Pius XIII. ein. Seine Hände glitten langsam auseinander und an der Bettdecke hinab.
Kapitel 5
Er war neun Jahre alt gewesen, als er seine Mutter und seine Schwester durch einen Selbstmordattentäter auf dem Weg nach Ramalla verloren hatte. Nachdem sie den Markt besucht hatten, stiegen der Junge, seine Mutter und seine zwölf Jahre alte Schwester in den Bus nach Hause ein.
Selbst bis zu diesem Tag waren seine Erinnerungen an den Schmerz und die Verwirrung nach der Explosion überaus lebendig geblieben, so als hätte sich das Unglück erst gestern ereignet.
Es war heiß in Ramallah. Seine Mutter hatte ihre Schuhe ausgezogen, um ihren Fuß zu massieren, uns seine Schwester saß schweigend neben ihr. Vom hinteren Ende des Busses aus beobachtete der Junge, wie ein Mann diesen betrat, in einem weiten Mantel, der viel zu warm für solch einen heißen Tag anmutete, und sich auf einen freien Platz ein paar Reihen vor ihnen setzte. Während der Bus seine Route abfuhr und auf dem Weg immer mehr Passagiere aufnahm, konnte er seine Augen nicht von diesem Mann abwenden.
Der Mann wirkte unruhig und angespannt. Als er sich ein paar Mal umsah und schließlich den Jungen erblickte, der ihn von hinten musterte, konnte man die Schweißperlen in seinen Augenbrauen glänzen sehen. Ihre Blicke trafen sich und irgendwie schien der Mann zu bemerken, dass er dem Jungen aufgefallen war, während all die anderen um ihn herum keine Ahnung von dem hatten, was er plante.
Mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln schien ihm der Mann freundlich zuzunicken, dann hob er die Hand. Darin hielt er eine Art Druckknopf, den man mit dem Daumen auslösen musste. »Das ist für die Besatzer der Nation des Islam. Allah ist groß!«
Als der Junge sich zu seiner Mutter umdrehen und sie fragen wollte, wer dieser Allah sei, drückte der Mann auf den Knopf.
In der Langsamkeit eines schlechten Traumes sah der Junge zu, wie der Mann in unzählige Stücke zerrissen wurde. Flammen und der Druck der Explosion ließen die Fenster des Busses zerbersten. Menschen, die neben ihm saßen, verschwanden in dem Feuer und der Asche. Gellende Schreie erfüllten die Luft, genauso wie dicker, beißender Rauch. Und von der Wucht der Detonation angetrieben traf den Jungen ein Metallsplitter am Kinn und zerschnitt das Fleisch zu einem grauenhaften zweiten Mund, der vor Verwirrung weit aufzustehen schien.
Danach erinnerte er sich nur noch an den Anblick eines Stücks blauen Himmels mit dichtem schwarzen Rauch davor und das Gefühl der Hitze von einem Feuer in seiner Nähe.
Erst als er mehrere Tage später erwachte und in das ausgezehrte Gesicht seines Vaters blickte, mit einer Haut, die wie eine lose Gummimaske an ihm hing, spürte er die unsäglichen Qualen. Mit Verbrennungen zweiten Grades an über dreißig Prozent seines Körpers und dem tiefen Schnitt an seinem Kinn hatte der Junge noch unglaubliches Glück gehabt. Der wahre Schmerz setzte erst ein, als er erfuhr, dass seine Mutter und seine Schwester bei der Explosion gestorben waren.
Als er seinen Vater fragte, warum der Mann in dem Bus das getan hatte, erklärte er es ihm.
An jenem Tag lernte er, wie sich ein Leben für einen Juden in einem Land voller unverhohlener Feindseligkeiten anfühlte.
Er holte tief Luft. Als die Bilder seiner Kindheit verblassten, öffnete der Teamführer seine Augen und erblickte die Mitglieder seiner Einheit, die meditierten, während sich der Van dem Anwesen des Gouverneurs näherte. Jeder Soldat, jedes Mitglied der Eliteeinheit stellte sich in diesem Moment bis ins Detail jede einzelne seiner Bewegungen vor, um sicherzustellen, dass es im späteren wirklichen Gefecht keinen Platz mehr für Fehler gab. So hatte er es ihnen beim Training immer wieder eingeschärft.
Jeder von ihnen war mit einem kompakten israelischen Sturmgewehr ausgestattet – ein Produkt israelischer Entwickler mit verheerenden Eigenschaften – und identisch bekleidet, angefangen von dem schwarzen Kampfanzug bis hin zu den Ski-Masken und dem Nachtsichtgerät über einem Auge. Keiner in seinem Team unterschied sich von den anderen.
Er selbst lehnte es ab, ein Kurzgewehr zu benutzen, und hatte sich daher für eine Sig Sauer P220, Kaliber .40, mit Schalldämpfer und am Griff befestigtem Laservisier entschieden. Das war die Waffe seiner Wahl – eine Waffe, an die er sich als Auftragsmörder gewöhnt hatte.
Auf dem Boden zwischen ihnen lagen Al-Hashrie und Al-Bashrah, gefesselt und in militärischer Tarnkleidung. Die beiden Männer beteten leise auf Arabisch vor sich hin, was der Teamführer ohne strafende Reaktionen aus seinem Team gewähren ließ.
Zum dritten Mal in den letzten fünf Minuten sah der Teamführer auf seine Uhr und musste feststellen, dass die Monate der Vorbereitung nun endlich Früchte tragen würden. Dann schloss er noch einmal die Augen, und die Bilder jenes Tages in Ramallah erinnerten ihn wieder daran, wieso er in den Krieg zog.
Es war 01:28 Uhr.
Kapitel 6
Annapolis, Maryland | 23. September, frühmorgens
Die zweistöckige Gouverneursvilla im Kolonialstil lag auf einer gepflegten Anhöhe. Säulen und aufwendige Faszien prägten das Bild des Hauses, an dessen Ziegelwänden unbekümmert wilder Wein emporrankte.
Auf der Kieseinfahrt, die vor der Villa endete, parkten in einigem Abstand