»Weil ich Jüdin war, gab man mir dieses Zeichen – und das, obwohl ich ein liebes Mädchen war, das niemals jemandem etwas zuleide tat. Meine Eltern, deine Urgroßeltern, waren gute Menschen, die dieses Zeichen nicht bekamen, aber nur deshalb, weil man ihnen befahl, sich links einzureihen. In Auschwitz bedeutete das den schnellen Tod in den Gaskammern. Ich sah sie nie wieder.« Sie lächelte. Ihr Gesicht wurde dadurch noch faltiger, doch jede Falte strahlte eine ungeheure Wärme und Schönheit aus. Die Falten einer Frau, die das Leben über alle Maßen liebte.
Dann griff sie nach Sharis Hand und umfing sie mit mütterlicher Güte. »Da ist viel Gutes in dir«, erklärte sie. »Ich kann es spüren. Es sind Menschen wie du, die etwas für das Leben aller verändern können, ganz egal, ob es sich dabei um Juden handelt oder nicht. Dieses Zeichen an meinem Arm erinnerte mich immer wieder daran, dass es Menschen gab, die in der dunkelsten Zeit des Lebens wegschauten und nichts taten, um mir oder den anderen zu helfen. Deshalb mussten Unzählige sinnlos ihr Leben lassen – weil man dem Bösen erlaubte, zu obsiegen. Aber in dir, meine Kleine, lodert ein Feuer, das so heiß brennt, dass ich es in deinen Augen sehen kann. Du möchtest Gutes für die tun, die sich nicht selbst beschützen können, nicht wahr?«
In diesem Moment wurde Shari klar, dass sie das tatsächlich wollte, auch wenn ihr neuentdeckter Eifer mindestens genauso sehr von dem Wunsch genährt wurde, ihre Großmutter glücklich zu machen, wie durch den Entschluss, die Wehrlosen zu schützen. Dieses Gefühl war neu für sie, denn trotz allem war sie erst sechzehn Jahre alt gewesen, und ihre größten Sorgen hatten bisher nur Jungen gegolten.
Das Lächeln ihrer Großmutter wurde breiter. »Mach dir keine Gedanken«, beruhigte sie das Mädchen. »Merke dir nur, dass eine Zeit kommen wird, in der es Widrigkeiten geben wird. Aber gib nicht auf. Entschlossenheit und Beharrlichkeit werden dich stets ans Ziel bringen. Ich war entschlossen, Auschwitz zu überleben. Und das tat ich. Nun liegt es an dir, dafür zu sorgen, dass das, was mir geschah, niemals wieder geschehen darf.«
Shari hob den Arm ihrer Großmutter, drehte ihn herum und strich mit ihren Fingern sanft über die ausgeblichene Tätowierung. »Niemand sollte so leiden müssen, wie du es getan hast, Großmutter. Und ich werde dafür sorgen, dass es niemandem wieder so ergehen wird.«
Ihre Großmutter lächelte sie weiter gütig an.
Shari fragte sich oft, ob ihre Großmutter der Ansicht war, dass ihre Versprechen nur die leichtfertigen Versprechungen einer Sechzehnjährigen waren, die einer alten Frau genau das versprach, was diese hören wollte, oder ob sie tatsächlich glaubte, dass Shari von ihren Worten überzeugt war. Denn das war sie. Die Liebe zu ihrer Großmutter war nie so groß gewesen wie zu jenem Zeitpunkt, auch wenn sie erst sechzehn und viel zu sehr mit Jungs beschäftigt war. Gute Menschen wie ihre Großmutter verdienten einfach etwas Besseres.
»Dann ist das mein Geschenk an dich, mein Liebling. Manchmal sind Ratschläge die besten Geschenke. Also nutze sie weise.«
Shari hatte die Lektion ihrer Großmutter zu ihrem sechzehnten Geburtstag nie vergessen können.
Nun, zwei Jahre später und achtzehn Jahre alt, hatte Shari ein Stipendium an der Georgetown Universität erhalten. Weniger an Jungs und mehr an ihrer Karriere interessiert, arbeitete Shari auf ihr Ziel hin, niemals wieder zuzulassen, dass jenen solche Gräueltaten widerfuhren, die »sich nicht selbst beschützen konnten«, indem sie sich für Kurse in Strafrecht einschrieb, dabei aber größeres im Auge hatte.
Rechts von ihr bemerkte Shari drei Teenager in ungefähr ihrem Alter, schwarz gekleidet, mit dazu passendem schwarzen Lippenstift und Nagellack, kohlrabenschwarz gefärbten Haaren und gespenstisch weiß gepuderten Gesichtern. Sie unterhielten sich lautstark und kommentierten die Fotografien mit Adjektiven wie geil, abgefahren oder cool. Worte, die sie tief verletzten.
Und Shari wunderte sich. Ob sie es wohl immer noch geil, abgefahren und cool gefunden hätten, wenn man sie den gleichen Torturen und dem gleichen Leid wie in den Aufnahmen ausgesetzt hätte?
Sicherlich nicht.
Während sie weiterschritt und die unaufgeklärten Gleichaltrigen hinter sich ließ, dachte Shari erneut über ihre Großmutter nach und die Art, wie sie couragiert ihr restliches Leben bestritten hatte. Indem sie Auschwitz überlebte, konnte ihre Abstammungslinie fortgeführt werden. Ihre Großmutter gebar drei Kinder, die der Familie weitere sieben Enkel schenkten. Shari war die Jüngste von ihnen. Ohne den Willen ihrer Großmutter, eines der schändlichsten Kapitel der Geschichte zu überleben, wäre keiner von ihnen heute am Leben.
Danke, Großmutter.
Shari beugte sich über eine Glasvitrine, und ihr Spiegelbild starrte zu ihr zurück. Sie war attraktiv, mit einer störrischen Haarlocke, die ihr wie ein umgekehrtes Fragezeichen über der linken Augenbraue hing. Ihre Augen – von einem geradezu umwerfenden Braun, die wie frisch geprägte Kupfermünzen funkelten – sahen fragend zu ihr auf. Woher kam dieser Fanatismus, der die Ermordung von über sechs Millionen Juden rechtfertigte? Für Shari war es kaum begreiflich, dass die Menschheit nicht erwachsen genug gewesen war, um den eigenen Niedergang zu bemerken.
Seufzend sah sie an ihrem Spiegelbild vorbei und erblickte die Nazi-Flagge, die in dem Schaukasten ruhte. Das Rot und Weiß des Fahnenstoffes strahlte hell, beinahe wie neu, und das Hakenkreuz als Symbol der Intoleranz starrte sie unverwandt an.
»Man wird dich immer verfolgen, nur weil du Jüdin bist«, hatte ihre Großmutter erklärt. »Aber du darfst nie vergessen, wer du bist, und musst stolz darauf sein, denn eines Tages wirst du daran erinnert werden, wer du bist, und du wirst kämpfen müssen, um am Leben zu bleiben. Vergiss das nie, meine Kleine.«
»Das werde ich nicht, Großmutter.«
Shari lächelte ein wenig, ein sanftes Kräuseln ihrer Lippen in Erinnerung an eine bemerkenswerte Frau. Das Holocaust-Museum zu besuchen war nicht nur eine Geste für das Gedenken an ihre Großmutter, sondern auch eine Erinnerung an das, was ihre Großmutter Shari eingeschärft hatte – stolz und unerschrocken zu sein, nie zu vergessen, woher man stammte, und immer jenen zu gedenken, die ihr Leben ließen. Doch was noch wichtiger war: In schlechten Zeiten, die es immer geben würde, standhaft zu bleiben.
»Erinnere dich an meine Worte, meine Kleine. Die Zeit wird kommen. Glaube mir.«
Shari bezweifelte, dass es in einem Land, in dem die freie Religionsausübung von der Verfassung geschützt wurde, zu irgendeiner Form von Ausgrenzung kommen würde, nur weil man Jude war. Aber so ganz ließ es sich auch nicht ausschließen.
Sollte es sich einmal als Problem herausstellen, wäre es nur ein weiteres Hindernis, welches sie für das Wohl vieler überwinden würde, dachte sie bei sich. Sie wusste, dass sie ihren Weg stets beharrlich weiterverfolgen würde, denn Beharrlichkeit war ein Teil ihrer Großmutter gewesen, und damit auch ein Teil von ihr, sowohl genetisch als auch aus Überzeugung.
Während sie weiter von einem Ausstellungsstück zum nächsten schritt, verbrachte Shari die meiste Zeit damit, über all die mutigen Menschen nachzusinnen, die diese Lager überlebten, und für jene zu beten, die sie nicht überlebten.
Kapitel 1
Sechs Meilen nordwestlich von Mesquite, Nevada | 18. September, 14:16 Uhr
Zwei Humvees und ein Lastwagen mit Plane in den Farben der Wüstenlandschaft durchquerten zügig die Wüste und zogen eine Wolke aus Staub und Sand hinter sich her. Der vorderste Humvee, der für diese Umgebung wie geschaffen war, eskortierte den M-Series-Lastwagen tiefer in die Talsenke hinein, während der hintere Humvee das gleiche Tempo hielt und dafür sorgte, dass die Gefangenen im Inneren des Lastwagens nicht entflohen.
Die Humvees federten die Unebenheiten des Wüstenbodens mühelos ab, der Lastwagen aber, dem einige Eigenschaften für dieses Terrain fehlten, verhielt sich dabei weniger kooperativ. Nur mit Mühe gelang es dem Truppenführer im Inneren des Trucks, mit seiner MP5 die acht Araber in Schach zu halten, die nebeneinander mit Plastikfesseln um den Handgelenken auf den Bänken saßen.
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