Prolog
Washington, D.C. | Vor fünfzehn Jahren
Zu jener Zeit, als Shari Cohens Großmutter in Auschwitz inhaftiert war, regnete es unablässig Asche vom Himmel.
Auf dem Höhepunkt seiner Existenz wurden in dem Konzentrationslager täglich über 20.000 Juden umgebracht und in den Verbrennungsöfen eingeäschert. Eine Tragödie, an welche die vielen Fotos an den Wänden und die Galerien von Schaukästen im Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. erinnerten.
In ehrfurchtsvoller Stille wanderten die Besucher von einem Schaukasten zum nächsten durch die große Halle, vorbei an Eisernen Kreuzen und deutschen Luger-Pistolen. Unter vertäfelten Lampen hingen deutsche und jüdische Flaggen sowie gerahmte Gemälde, welche das Nazi-Regime von den vorherigen jüdischen Eigentümern beschlagnahmt hatte.
Am Ende des Korridors lief Shari an einer Gedenkwand voller unzähliger Schwarz-Weiß-Aufnahmen entlang und studierte jede Einzelne von ihnen sorgfältig.
Und dann fand sie es – ein schwarz-weißes Foto einer Gruppe von Häftlingen, die beieinanderstanden, in Kleidungsstücken, unter denen sich ihre spindeldürren Arme und Beine abzeichneten. Die Verzweiflung in ihren Gesichtern war offenkundig und ihre von unendlicher Trauer überquellenden Augen sprachen Bände.
Vorsichtig fuhr Shari mit dem Finger die Konturen einer jungen Frau ab, die stolz ihren Kopf erhoben hatte. Ihre hervorstehenden Schultern und Wangen, ihre bleiche Haut und die tiefen Augenringe zeugten von ihrem Willen und ihrem Mut im Angesicht der Not. Das Foto zeigte Sharis Großmutter.
Unwillkürlich spürte sie, wie Tränen in ihren Augen brannten, und ihr Kummer und ihr Mitgefühl mischten sich mit dem überwältigenden Stolz, den sie empfand.
Ohne Eile lief sie die Exponate ab, studierte jedes Foto und versuchte sich die Gräuel vorzustellen, die sie abbildeten. Eines der Bilder zeigte leblose Körper, die von Galgen herabhingen. Shari erinnerte sich, wie ihre Großmutter erzählt hatte, dass man die Leichen dort oft für Tage hängen ließ, um den anderen Juden im Lager ihr drohendes Schicksal vor Augen zu führen.
Wer dem jüdischen Glauben angehörte, so berichtete ihre Großmutter, sah sich dem sicheren Tod gegenüber. Ohne Ausnahme.
Selbst jetzt noch, in diesem Augenblick, konnte Shari den leichten, liebenswerten Akzent ihrer Großmutter hören. Die Art, wie sie von diesen Dingen sprach, mit jenem Mut und dem Stolz, eines der dunkelsten Kapitel der Weltgeschichte überlebt zu haben, war für sich allein schon ein Beweis für die ungeheure innere Willensstärke dieser alten Frau.
Damals, als Shari noch zu jung war, um die Tragweite des Leids ihrer Großmutter wirklich verstehen zu können, aber gleichzeitig an der Schwelle stand, etwas darüber zu lernen, hatte ihre Großmutter ihr die schablonenhaften Nummern auf ihrem Unterarm gezeigt. Las man sie von der einen Seite, stand dort 100681, betrachtete man den Unterarm jedoch von der anderen Seite, wurden die Ziffern 189001 daraus. Die gleiche Tätowierung, aber unterschiedliche Nummern. Ihre Großmutter nannte sie immer ihre magischen Zahlen.
Shari lächelte. In Gedanken sah sie, wie ihre Großmutter ebenfalls lächelte, amüsiert von Sharis erstauntem Gesicht, als sich die Nummern vor ihren Augen veränderten.
Dann verschwand Sharis Lächeln. Ihre Lippen formten wieder eine gerade Linie. Jene Frau, die ihr schweres Schicksal in Auschwitz so mutig und standhaft ertrug, war vor einer Woche im Alter von neunundsiebzig Jahren in einem Krankenhaus in D.C. an Herzversagen gestorben. Shari vermisste sie unendlich.
Sie lief weiter an den Displays entlang und betrachtete noch andere Aufnahmen, darunter Fotos von verkohlten und gebrochenen Knochen aus den Verbrennungsöfen.
Wie es ihrer Großmutter gelungen war, bei Verstand zu bleiben, war Shari unbegreiflich. Wie konnte überhaupt jemand unter dieser Wolkendecke von Auschwitz leben, wo man sich täglich fragen musste, wann es die eigene Asche sein würde, die vom Himmel fiel und das Land mit einem grässlichen Grauschleier überzog?
Noch nicht einmal ansatzweise konnte sie sich dieses Martyrium ausmalen.
Beim Betrachten der Fotos erkannte Shari eine zeitliche Abfolge der Ereignisse in ihnen, die sie daran erinnerte, dass das tolerante Land, in dem sie als Jüdin lebte, auch nicht frei von Vorurteilen war. Sie musste an die Worte ihrer Großmutter zwei Jahre zuvor denken, als Shari gerade sechzehn geworden war.
»Du bist jetzt eine junge Frau«, hatte sie ihr erklärt. »Alt genug, um die Dinge zu verstehen, die eine junge Frau wissen sollte. Was ich dir jetzt also mit auf den Weg geben werde, meine Kleine, ist die wundervollste Gabe von allen. Die Gabe der Erkenntnis und der Weisheit.« Dann hatte sich ihre Großmutter näher zu ihr herübergebeugt und sie zu sich gewunken, ganz so, als würde man das Folgende nur flüsternd weitergeben können. »Ich gehöre dem jüdischen Glauben an«, fuhr sie fort. »Genau wie du. Aber ich war stolz und lehnte es ab, ihm zu entsagen. Als Jude in Auschwitz inhaftiert zu sein, bedeutete den sicheren Tod. Doch wenn man damit kämpft«, sagte sie und legte sich ihre flache Hand auf die Stelle über ihrem Herzen, »wenn man wirklich stolz darauf ist, wer man ist, dann wird man überleben. Aber du darfst eine Sache nie vergessen: Dort draußen in der Welt gibt es furchtbare Menschen, die nur deshalb danach trachten, dich zu zerstören, um das Werk des Bösen verrichten zu können. Wenn du zulassen möchtest, dass das Böse die Oberhand gewinnt, dann sieh einfach nur dabei zu. Aber wenn du etwas verändern möchtest, dann kämpfe, damit wir alle im Licht leben können. Verstehst du irgendetwas von dem, was ich dir sage?«
Shari erinnerte