Zuletzt hob Papst Pius XIII. noch einmal die Hand und winkte den versammelten Menschen zu, was einen Jubelsturm auslöste, bevor er geduckt im Wagen des Gouverneurs verschwand.
Ein Mann schien jedoch von all dem unbeeindruckt zu sein.
Der blasse Mann, der in der vordersten Reihe der Schaulustigen stand, lächelte nicht und zeigte auch keine andere Gemütsregung, während er den Papst mit den Augen fixierte. Er machte den Eindruck, als wäre er in Gedanken versunken, was noch dadurch verstärkt wurde, dass er mit seinen Fingern wie geistesabwesend über die Narbe an seinem Kinn strich.
Erst kurz vor der Ankunft des Papstes hatte den Teamführer die Geheiminformation erreicht, dass der Präsident der Vereinigten Staaten ein hochqualifiziertes Team aus vier kampferprobten Agenten abgestellt hatte, um zusammen mit den üblichen Sicherheitskräften der Polizei das Anwesen des Gouverneurs zu bewachen, in dem der Papst residieren würde.
Doch die Einheit des Teamführers war ebenfalls auf das Niveau einer Elitetruppe geschliffen worden. Und trotz des Vertrauens, welches der Präsident in die Fähigkeiten seiner Agenten setzte, wusste der Teamführer, dass der Überfall auf den Wohnsitz des Gouverneurs einer besseren Übung gleichkam, mit kaum nennenswertem Risiko. Am Morgen des kommenden Tages würde sich Papst Pius XIII. bereits in seiner Gewalt befinden, während die Agenten des Präsidenten allerhöchstens noch Erwähnung in den Todesanzeigen der morgendlichen Zeitung finden würden.
Voller innerer Vorfreude stellte sich der Teamführer vor, wie sich seine Einheit lautlos und überaus präzise durch die Hallen der Gouverneursvilla bewegen würde. Er hatte sein Team für verschiedene Einsätze trainiert, solange, bis ihnen ihre Bewegungen in Fleisch und Blut übergangen waren und ohne nachzudenken abgerufen werden konnten. Diese Operation aber bedurfte eines höheren Maßes an Entscheidungsfindung, denn hier würde es auf Nanosekunden anstatt eines Augenblickes ankommen. Dieser Sekundenbruchteil konnte in einer solchen Operation den Unterschied zwischen Erfolg oder Fehlschlag ausmachen.
Als sich die Limousine zusammen mit der restlichen Autokolonne in Richtung der Flughafenausfahrt in Bewegung setzte, bahnte sich der Teamführer seinen Weg durch die Menge und hielt auf die Türen des Terminals zu.
Kapitel 4
Annapolis, Maryland | 22. September, früher Abend
Üblicherweise residierten hochrangige Würdenträger im Blair House, dem offiziellen Quartier für Gäste des amerikanischen Präsidenten. Da die Residenz jedoch von chinesischen Delegierten in Beschlag genommen wurde, die ihre wirtschaftlichen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten zu vertiefen suchten, wurde der Papst in der Villa des Gouverneurs in Annapolis untergebracht, welche sich etwa vierzig Meilen von dem Anwesen des Vizepräsidenten entfernt auf dem Gelände des Naval Observatory befand.
Als klar wurde, dass das Blair House während der Tage des Papstbesuches nicht zur Verfügung stehen würde, schlug der Gouverneur von Maryland vor, mit zwischenzeitlich verschärften Sicherheitsvorkehrungen durch den Präsidenten den Papst in seiner Villa zu beherbergen. Dieses Angebot war jedoch keine reine Geste des guten Willens. Vielmehr bot es für Gouverneur Steele die Gelegenheit, für seinen Versuch zu werben, bei den anstehenden Wahlen einen Sitz im Senat zu ergattern. Da der Besuch des Papstes sein Image als konservativer Christ festigen würde, konnte ihm das in den kommenden Monaten viele wichtige Stimmen an der Basis einbringen.
Darlene Steele, mit der er seit elf Jahren verheiratet war, stand ihm im Wahlkampf zur Seite. Mit azurblauen Augen, einer Haut wie Porzellan und ihren anmutigen Bewegungen verkörperte sie den Inbegriff viktorianischer Unschuld. Doch hinter der grazilen Person verbarg sich gleichzeitig die Quintessenz einer Klette, die sich an den politischen Erfolg ihres Mannes klammerte und von all dem zehrte, dessen sie in seinem Schatten habhaft werden konnte. Geld, Macht und Status waren die Lockmittel, die sie ihre lieblose Ehe aufrechterhalten ließen.
Im Speisesaal der Villa hielt Gouverneur Jonathan Steele ein prächtiges förmliches Dinner mit politischen Koryphäen wie dem Vizegouverneur, zwei Senatoren und einem Abgeordneten des Repräsentantenhauses ab. Zusammen mit dem Papst und den Bischöfen des Heiligen Stuhls war der Saal bis auf den letzten Platz besetzt.
Drei Stunden lang saßen die Gäste an der Tafel, die das Zentrum des Saals dominierte, tranken Wein oder Likör oder beides und aßen von einem reichen und vielfältigen Menü, welches für jeden Geschmack etwas bereithielt.
Als stumme Zeugen jener heiteren Zusammenkunft säumten Ölgemälde früherer Gouverneure die mit Kirschholz vertäfelte Wand der östlichen Seite. Ihre für alle Zeit unbeweglichen Gesichter schienen das Geschehen mit quecksilberblauen Augen interessiert oder auch ablehnend zu verfolgen. Von der Kassettendecke hing ein prachtvoller Kronleuchter, dessen unzählige wie Tränen geformte Kristalle schillernd das Licht reflektierten. Und gegenüber der Galerie, auf der Westseite, bestanden die Wände vom Boden bis zur Decke aus Glas und gaben so einen beeindruckenden Blick auf den Horizont frei, wo im Verlauf des Mahls das schwindende Tageslicht einmal das gesamte Farbspektrum durchlief.
Ein Ereignis, wie es perfekter nicht sein konnte.
Zu vorgerückter Stunde, als sich der Zeitunterschied zwischen Rom und Washington für den Papst zu sehr bemerkbar machte, schlug Pius vor, den Abend ausklingen zu lassen. Er segnete alle Gäste, bevor er sich in seine Räumlichkeiten zurückzog.
Alle Anwesenden, auch jene, die keiner Religion angehörten oder einem bestimmten Glauben folgten, empfanden überwältigende Ehrfurcht vor diesem König, der ein Reich aus über einer Milliarde Menschen regierte.
Nachdem sich die Würdenträger wenig später ebenfalls verabschiedet hatten, herrschte bald wieder eine unheimliche Stille in dem Saal. Nur die Gesichter der Ahnengalerie blieben zurück, um über den Raum zu wachen.
Bald schon würden sie in der gleichen unbewegten Pose einem entsetzlichen Schauspiel beiwohnen, und ihre Augen, so tot und blass wie Murmeln, würden nichts von den Dingen preisgeben, derer sie Zeuge werden würden.
Nach dem Essen führte Bischof Angelo den Papst in sein Schlafzimmer und hängte dessen Ornat in dem begehbaren Kleiderschrank auf, während sich Pius für die Nachtruhe vorbereitete und seine heilige Unterwäsche anlegte – einen baumwollenen Umhang, der ihm vom Hals bis zu den Knöcheln reichte.
Nachdem sich der Papst schwerfällig auf dem Rand der Matratze niedergelassen hatte, half Bischof Angelo dem älteren Mann unter die Bettdecke und deckte ihn zu.
»Ist es bequem so?«, fragte er.
Der Papst rutschte mit den Schultern und dem Rücken ein wenig auf der Matratze hin und her, um eine angenehme Position zu finden. »Na ja, es ist eben nicht wie zu Hause«, sagte er, »aber es wird schon gehen.«
Angelo legte eine Hand auf die Schulter des Pontifex und spürte die knochigen Wölbungen eines von fortgeschrittenem Alter gezeichneten Mannes. »Vielleicht möchten Sie vor Ihrer Nachtruhe noch etwas lesen?«
Der Papst schüttelte den Kopf. »Nicht heute, Gennaro. Morgen wird für uns alle ein großer Tag werden. Wir müssen ausgeruht sein.«
»Dann schlafen Sie gut.«
Auf seinem Weg hinaus blieb Bischof Angelo noch einmal stehen, um die perlweiße Mitra, die Krone eines Königs, auf der Kommode glatt zu streichen, dann schloss er leise hinter sich die Tür, bis er das Türschloss einrasten hörte.
An den meisten Abenden las Papst Pius XIII. entweder noch aus der Bibel oder verlor sich in Passagen aus John Miltons Das verlorene Paradies, dessen Sprache und Versmaß er meisterhaft fand und das Gedicht für eine Bestätigung hielt, dass die Kirche stets durch die kritischen Augen ihrer Jünger betrachtet werden würde.
Doch an diesem Abend war er selbst zu müde, um den Umschlag des ledergebundenen Buches aufzuschlagen, und schaltete stattdessen die Nachttischlampe