Die Geisteswissenschaften. Wilhelm Dilthey. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Dilthey
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075837370
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Boden mit starken dunklen Banden naturgewaltiger Gefühle uns zusammenhält, bringt in den Grundverhältnissen der genealogischen Gliederung und der Niederlassung Gleichartigkeit kleinerer und größerer Gruppen und Gemeinschaft zwischen ihnen hervor; das geschichtliche Leben entwickelt diese Gleichartigkeit, vermöge deren insbesondere die einzelnen Völker sich dem Studium als abgegrenzte Einheiten darbieten. Hierüber hinaus entstehen nun dauernde Gebilde, Gegenstände der gesellschaftlichen Analyse, wenn entweder ein auf einem Bestandteil der Menschennatur beruhender und darum andauernder Zweck psychische Akte in den einzelnen Individuen in Beziehung zueinander setzt und so zu einem Zweckzusammenhang verknüpft, oder wenn dauernde Ursachen Willen zu einer Bindung in einem Ganzen vereinen, mögen nun diese Ursachen in der natürlichen Gliederung oder in den Zwecken, welche die Menschennatur bewegen, gelegen sein. Insofern wir jenen ersteren Tatbestand auffassen, unterscheiden wir in der Gesellschaft die Systeme der Kultur; insofern wir diesen letzteren betrachten, wird die äußere Organisation sichtbar, welche sich die Menschheit gegeben hat: Staaten, Verbände, und, wenn man weiter greift, das Gefüge dauernder Bindungen der Willen, nach den Grundverhältnissen von Herrschaft, Abhängigkeit, Eigentum, Gemeinschaft, welches neuerdings in einem engeren Verstande als Gesellschaft im Gegensatz zum Staat bezeichnet worden ist.

      Die einzelnen sind in der Wechselwirkung des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens tätig, indem sie in dem lebendigen Spiel ihrer Energien eine Mannigfaltigkeit von Zwecken zu, verwirklichen suchen. Die Bedürfnisse, welche in der menschlichen Natur angelegt sind, werden infolge der Eingeschränktheit des Menschendaseins nicht von der isolierten Tätigkeit des einzelnen befriedigt, sondern in der Teilung der menschlichen Arbeit und in dem Erbgang der Generationen. Dies wird möglich durch die Gleichartigkeit der Menschennatur und die im Dienst dieser Zwecke stehende überschauende Vernunft in ihr. Aus diesen Eigenschaften entspringt die Anpassung des Handelns an den Ertrag der Arbeit des Vorlebens, an die Mitwirkung der Tätigkeit der Gleichzeitigen. So greifen die wesenhaften Lebenszwecke des Menschen durch Geschichte und Gesellschaft hindurch.

      Die Wissenschaft unternimmt nun, nach dem Satze vom Grunde, welcher allem Erkennen zugrunde liegt, die Abhängigkeiten festzustellen, welche innerhalb eines solchen auf einem Bestandteil der Menschennatur beruhenden, über das Individuum hinausgreifenden Zweckzusammenhangs zwischen den einzelnen psychischen oder psychophysischen Elementen bestehen, die ihn bilden, sowie die Abhängigkeiten, welche zwischen ihren Eigenschaften stattfinden. Sie bestimmt, wie ein Element das andere in diesem Zweckzusammenhang bedingt, von dem Auftreten einer Eigenschaft in ihm das einer anderen abhängig ist. Da diese Elemente bewußt sind, können sie in gewissen Grenzen in Worten ausgedrückt werden. Daher bildet sich dieser Zusammenhang in einem Ganzen von Sätzen ab. Jedoch sind diese Sätze sehr verschiedener Natur; je nachdem die psychischen Elemente, welche in dem Zweckzusammenhang verbunden sind, vorwiegend dem Denken. oder dem Fühlen oder dem Willen angehören, treten Wahrheiten, Gefühlsaussagen, Regeln auseinander. Und dieser Verschiedenheit ihrer Natur entspricht die ihrer Verbindung, folgerichtig der Abhängigkeiten, welche die Wissenschaft zwischen ihnen findet. Schon an diesem Punkte kann eingesehen werden, daß es einer der größten Fehler der abstrakten Schule war, alle diese Verbindungen gleichmäßig als logische aufzufassen, und sonach schließlich alle diese geistigen Zwecktätigkeiten in Vernunft und Denken aufzulösen. Ich wähle für einen solchen Zweckzusammenhang den Ausdruck: System.

      Die Abhängigkeiten, die solchergestalt in Beziehung auf den Zweckzusammenhang von psychischen oder psychophysischen Elementen innerhalb eines einzelnen Systems bestehen, existieren zunächst in bezug auf diejenigen Grundverhältnisse desselben, welche ihm an allen Punkten gleichförmig eigen sind. Solche bilden die allgemeine Theorie eines Systems. Abhängigkeiten dieser allgemeinsten Art hat Schleiermacher innerhalb des Systems der Religion zwischen der Tatsache des religiösen Gefühls und den Tatsachen der Dogmatik und philosophischen Weltanschauung, zwischen der Tatsache dieses Gefühls und denen des Kultus sowie der religiösen Geselligkeit aufgestellt. Das Thünensche Gesetz drückt das Verhältnis aus, in welchem die Entfernung vom Markte, indem sie die Verwertung der Bodenprodukte beeinflußt, die Intensität der Landwirtschaft bedingt. Solche Abhängigkeiten werden naturgemäß gefunden und dargestellt in dem Zusammenwirken der Analyse des Systems mit dem Schluß aus der Natur der Wechselwirkung der in ihm verbundenen psychischen oder psychophysischen Elemente sowie der Bedingungen von Natur und Gesellschaft, unter denen sie stattfindet. Alsdann bestehen Abhängigkeiten engeren Umfangs zwischen den Modifikationen dieser allgemeinen Eigenschaften eines Systems, welche eine Einzelgestalt desselben bilden. So ist ein Dogma innerhalb eines religiösen Einzelsystems nicht unabhängig von den anderen, welche in demselben mit ihm vereinigt sind; ja die Hauptaufgabe der Dogmengeschichte und Dogmatik, wie sie durch Schleiermachers tiefere Analyse der Religion zu klarem Bewußtsein gelangte, wird darin liegen, an die Stelle eines untergeschobenen logischen Verhältnisses von Abhängigkeit, vermöge dessen nur ein Lehrsystem entsteht, in beiden Wissenschaften die Art von Abhängigkeit der Dogmen untereinander zu setzen, welche in der Natur der Religion, insbesondere des Christentums gegründet ist.

      Und zwar beruhen diese Wissenschaften von den Systemen der Kultur auf psychischen oder psychophysischen Inhalten, und diesen entsprechen Begriffe, welche von denen, die von der Individualpsychologie benutzt werden, spezifisch verschieden sind und verglichen mit ihnen als Begriffe zweiter Ordnung im Aufbau der Geisteswissenschaften bezeichnet werden können. Denn die Inhaltlichkeit, wie sie in dem Bestandteil der Menschennatur angelegt ist, auf welchem der Zweckzusammenhang eines Systems beruht, bringt in der Wechselwirkung der Individuen unter den Bedingungen des Naturganzen, in geschichtlicher Steigerung zusammengesetzte Tatsachen hervor, welche sich von der in der Psychologie entwickelten zugrunde liegenden Inhaltlichkeit selber unterscheiden und die Grundlage der Analysis des Systems bilden. So beherrscht der Begriff der wissenschaftlichen Gewißheit in seinen verschiedenen Gestalten, als Überzeugung von Wirklichkeit im Wahrnehmen, als Evidenz im Denken, als Bewußtsein von Notwendigkeit gemäß dem Satz vom Grunde im Erkennen die ganze Theorie der Wissenschaft. So bilden die psychophysischen Begriffe von Bedürfnis, Wirtschaftlichkeit, Arbeit, Wert u. a. die notwendige Grundlage für die von der politischen Ökonomie zu vollziehende Analysis. Und wie zwischen den Begriffen, so besteht (gemäß der Begriffe mit Sätzen verknüpfenden Beziehung) zwischen den fundamentalen Sätzen dieser Wissenschaften und den Ergebnissen der Anthropologie ebenfalls ein Verhältnis, nach welchem die als Wahrheiten zweiter Ordnung in dem aufsteigenden Zusammenhang der Geisteswissenschaften bezeichnet werden können.

      Wir können dem Zusammenhang der Argumentation, welchem diese Analyse der Einzelwissenschaften des Geistes gewidmet ist, nunmehr ein weiteres Glied einfügen. Die Tatsachen, welche die Systeme der Kultur bilden, können nur vermittels der Tatsachen, welche die psychologische Analyse erkennt, studiert werden. Die Begriffe und Sätze, welche die; Grundlage der Erkenntnis dieser Systeme ausmachen, stehen in einem Verhältnis von Abhängigkeit zu den Begriffen und Sätzen, welche die Psychologie entwickelt. Aber dies Verhältnis ist so verwickelt, daß nur eine zusammenhängende erkenntnistheoretische und logische Grundlegung, welche von der besonderen Stellung des Erkennens zu der geschichtlichen, der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgeht, die Lücke ausfüllen kann, welche zwischen den Einzelwissenschaften der psychophysischen Einheiten und denen der politischen Ökonomie, des Rechts, der Religion u. a. bis heute besteht. Diese Lücke wird von jedem Einzelforscher gefühlt. Die englisch-französische Wissenschaftslehre, welche such hier ein bloßes Verhältnis der deduktiven und der induktiven Operation sieht, und daher auf dem rein logischen Wege durch Untersuchung der Tragweite dieser beiden Operationen die schwierige Frage zu lösen glaubt, hat ihre Unfruchtbarkeit nirgend deutlicher als in den weitläufigen Debatten über diesen Punkt dargetan. Die methodologischen Voraussetzungen dieser Debatten sind irrig. Die Frage ist nicht, wie diese Forscher sie stellen, ob solche Wissenschaften einer deduktiven Entwicklung fähig seien, welche dann einer induktiven Verifikation und Anpassung an die komplexen Verhältnisse des tatsächlichen Lebens unterliege, oder ob sie induktiv zu entwickeln und dann durch eine Deduktion aus der menschlichen Natur zu bestätigen seien. Diese Fragestellung selber ist in der Übertragung eines abstrakten Schemas aus den Naturwissenschaften gegründet. Nur das Studium der Arbeit des Erkennens, welche unter den Bedingungen der besonderen Aufgabe der Geisteswissenschaften steht, kann das Problem des hier bestehenden Zusammenhangs auflösen.

      Man könnte sich nun vorstellen, es gebe Wesen, deren Wechselwirkung