DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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Die beiden schauten kindlich verträumt über die Absperrung hinunter auf die runden Becken voller Exkremente. Grant begann schließlich, dicke Steine über die Mauer zu werfen, »um herauszufinden, wie hoch die Scheiße spritzt«, bis ein Mann mit langem, grauen Haar aus einem der Gebäude neben der Anlage gelaufen kam, ihnen mit einer geschüttelten Faust drohte und rief, dass sie sich sofort verziehen sollten.

      »Verzieh dich doch selbst, Scheißerührer!«, schrie Grant zurück und warf noch einen Backstein, der trudelte und dann laut klatschend in ein Abwasserbecken plumpste. Sie blieben gerade noch lange genug stehen, um mitzubekommen, wie die braune Flutwelle überschwappte und der Mann »Oh, Scheiße!« schrie.

      Sie liefen fünf Minuten lang lachend davon, ehe sie sich auf dem begrünten, unnatürlichen Hügel fallenließen, der die Böschung der Gleise bildete. Als sich Grants Atem wieder beruhigt hatte, ging er zum Fluss und blickte zur Eisenbahnbrücke hinauf. Einige der kreidigen Kiesel, mit welchen man den Boden entlang der Strecke aufschüttete, waren die sechzig Fuß bis zum Ufer heruntergefallen. Er hob einen auf, wiegte ihn in der Hand und warf ihn dann im hohen Bogen in Richtung Unterseite der Brücke. Am Scheitelpunkt seiner Flugbahn erreichte der Stein fast den Laufsteg, dann ging er über dem Fluss nieder und traf mit einem deutlichen Glucksen das schmutzige Wasser.

      »Ui!«, rief Davey beeindruckt.

      »Scheißhaus«, brummte Grant und hob den nächsten Kiesel auf. Davey stellte sich neben ihn, während er geistesabwesend an einem Zeigefinger lutschte. Grant versuchte es erneut und verfehlte dieses Mal sogar noch weiter sein Ziel.

      »Zu schwer«, rechtfertigte er sich selbst und suchte das Gestrüpp am Ufer nach einem weiteren geeigneten Wurfgeschoss ab. Als Davey unter der Brücke stand, schaute er zu dem Geflecht aus Trägern und Streben auf, das mitten in der Luft zu schweben schien.

      »Hallo!«, rief er und lauschte dem kurzen Echo, das wie ein Bellen klang. Es war, als werfe man einen Tennisball gegen eine Wand, vor der man zu dicht stand, sodass er zu schnell zurückkam.

      »Auf ein Neues«, sprach Grant. Er vollzog eine Drehung wie ein Hammerwerfer und ließ den Stein dann los. Sie beobachteten, wie er vom Laufsteg abprallte, und johlten dann begeistert. Es schepperte und polterte, was Davey an eine Szene aus einem Gruselfilm erinnerte, in der eine Boje nachts im Nebel auf dem Meer trieb. Wenn er brav war, erlaubte ihm seine Mama manchmal, länger aufzubleiben und solche Sachen mit ihr zu gucken. Jetzt wusste er allerdings, dass er es bestimmt eine Weile nicht mehr tun durfte. Das Gurgeln des Wassers, als der Stein eintauchte, wurde von Geplätscher begleitet, als Metallsplitter nach unten rieselten. Ein paar landeten in der Nähe der Jungs am Ufer. Sie warfen sich übertrieben auf den Boden, so wie die Leute in den Fernsehserien stets Deckung suchten.

      »Das Scheißding stürzt bald ein«, sagte Grant ehrfürchtig. »Irgendwann kracht ein Zug in diesen Fluss, und dann bin ich hoffentlich hier, um es zu sehen.«

      Davey wusste, dass er jedes Wort ernst meinte. Grant machte nie Witze, wenn es um Zerstörung ging. Er hatte damals auch angekündigt, die Scheiben der Gewächshäuser des alten Mr. Andrews einzuwerfen und hatte es tatsächlich getan; dem Fenster von Mrs. Dix Ladentür war es ähnlich ergangen, nachdem sie ihn beim Stehlen von Süßigkeiten erwischt hatte – »Karamellen für zwei Cent? Sie sind der Dieb, nicht ich!« – und Peter Carson war mit blutiger Nase dahergekommen, weil er Grants Dad einen Zigeuner genannt hatte. Trotz seines zarten Alters von fünf Jahren schien Davey in der Lage zu sein, etwas in dem Moran-Bengel zu erkennen, das seiner Mutter und den Nachbarn offenbar entging.

      Denn Grant spielte nur schlechten Menschen übel mit.

      Mr. Andrews war ein gemeiner Alter, der Kinder verprügelte, wenn er sie in der Nähe seines geliebten Gartens schnappte, auch wenn sie gar nichts angestellt hatten. Einmal hatte er Clifford Johns ein blaues Auge verpasst, und der Junge war erst zwölf. Mrs.

       Und Dix zog den Leuten das Geld aus der Tasche, das meinte selbst seine Mama. Ihre Preise seien überzogen hoch, hatte sie einmal zu Carol gesagt.

       Peter Carson hingegen war ein grausames Kind. Er ärgerte ständig die ganz Kleinen und brachte sie zum Weinen. Grant hatte ihm erzählt, es stimme, dass sein Vater ein Zigeuner sei, aber er hasste es einfach, dass Peter Carson über seinen Vater sprach, egal in welchem Zusammenhang. Für Davey war Grant wie Batman oder Robin Hood; wäre ihm das Wort ein Begriff gewesen, hätte er ihn bestimmt als edelmütig bezeichnet.

      Aber er war auch gefährlich, da hatte Mama schon recht.

      »Lass uns auf die Brücke klettern«, schlug Grant vor und grinste wieder schalkhaft.

      Sie stiegen den Hang hinauf, wobei sie sich an Grasbüscheln festhielten und versuchten auf getrockneten Lehmklumpen Fuß zu fassen. Davey schaute über seine linke Schulter und wurde fast von einem Schwindelgefühl überwältigt, als er das rauschende Wasser unter sich sah. Es kam ihm ungeheuer hoch vor, obwohl er erst die Hälfte des Gefälles bewältigt hatte. Grant packte ihn grob an der Schulter und zog ihn zu sich an den Streckenrand. Dort legten sie sich beide erst einmal erschöpft hin und keuchten angesichts der sengenden Luft, die diesen Jahrhundertsommer kennzeichnete. Später in den Nachrichten würde sogar die Rede von Hitzetoten sein.

      Davey glaubte, von hier oben sehe man die ganze Stadt: Dort war das doofe Fußballfeld, rechts Carsons Schrottplatz und das Schulgelände am Gegenufer, links von ihm die ersten Ausläufer der Wohnsiedlung, die er sein Zuhause nannte, während die Gebäude im Zentrum, gemeinsam mit dem Turm von St. Matthew, wo er getauft worden war und Mama seinen Daddy geheiratet hatte, die Dächer überragten. Hinter ihm lagen Äcker und in der Ferne die Measton Hills. Grant zeigte auf die endlosen Reihen von Apfel- und Pflaumenbäumen.

      »Da kann man sich prima die Taschen vollmachen«, bemerkte er. »Zu dumm, dass der Bauer ein Gewehr hat.«

      Als sie auf die Brücke traten, stimmten sie einen Singsang an: »Der Bauer schießt dich tot, der Bauer schießt dich tot, olé …« Davey fand, man würde gar nicht darauf kommen, dass man auf einer Brücke ging, sähe man nicht die Stahlgeländer an den Seiten. Er folgte dem Verlauf der Schienen, so weit er sehen konnte. In einer Richtung glänzten sie meilenweit silbrig in der Sonne, in der anderen verschwanden sie kurz hinter der Brücke an der Seite eines Berghangs. Sie stellten sich auf das Gleis – Davey allerdings erst nach langer Überzeugungsarbeit sowie einem anschaulichen Beweis dafür, dass er keinen tödlichen Stromschlag bekommen würde – und spielten durch, wie sie sich verhalten würden, wenn ein Zug käme. Daraufhin spuckten sie über das Geländer in den Fluss unterhalb – weit unterhalb – und übten sich im Zielen mit Kieseln. Sie verbrachten einige Zeit damit, an der Oberfläche treibenden Müll zu versenken. Davey traf mit Glück eine zur Hälfte aus dem Wasser ragende Guinness-Flasche, die sogar zerbrach. Dann weihte Grant ihn schließlich in seinen Plan ein.

      – 3 –

      Sie warteten darauf, dass die Vibrationen zunahmen, als die zwölf Kalksteine endlich anfingen, auf dem heißen Gleis zu zittern. Die Jungs hatten sie mit respektvoller Vorsicht dort hingelegt, ohne ein einziges Wort zu sprechen, und sich dann an den Rand der Strecke zurückgezogen, wo das Gras hoch genug war, um sich darin zu verstecken. Die beiden kannten genügend Kriegsfilme, um sich gekonnt, wie Soldaten auf den Bauch zu legen.

      Der Zug war pünktlich.

      Keiner der beiden hatte eine klare Vorstellung von den Fahrplänen, aber für sie kam der 12.20 Uhr Zug aus Paddington gerade richtig. Sie mussten nur fünf Minuten warten, bis die Staubkörner auf den Gleisen zu tänzeln und springen begannen, während die dickeren Steine bebten, als wüssten sie über ihr bevorstehendes Schicksal genau Bescheid.

      »Schau!« Davey konnte die diebische Freude in Grants Stimme richtiggehend hören und spürte, wie sich seine eigenen sonnenverbrannten Wangen beim Grinsen spannten. In der Ferne wurde nun die Lok langsam sichtbar. Er war erst einmal mit dem Zug gefahren, als ihn seine Mutter nach Birmingham mitgenommen hatte, um ihre alte Schulfreundin zu besuchen, Tante June. Das war toll gewesen, doch dies hier fand er viel besser. Das Rattern des näherkommenden Zugs wurde von einem ohrenbetäubenden Wa-huuuh übertönt.

      Die Lok legte die Entfernung bis zu den Jungen