O, Christabel, komm und siehe selbst, wie es geschieht, dass Deine stolze, tapfere Lucy Dir einen solchen Brief schreiben muss. Das Entsetzliche, der Entsetzliche wohnt mit mir in ein und demselben Hause – wohnt über mir – und in dem Augenblick, in welchem ich diese zitternden Zeilen auf dieses tränenbefeuchtete Blatt werfe, höre ich seinen Schritt, sein Lachen – o sein gemeines, gemeines Lachen über meinem Haupte, und die Angst, der Zorn, der ohnmächtige Zorn schüttelt mich: Christabel, jetzt singt er, er singt, wenn man das Singen nennen kann – noch einen Augenblick, und ein widerwärtig summender Ton wird meine Nerven zerreißen, – der Pöbelhafte spielt auch die Maultrommel, spielt sie bei offenem Fenster aus dem Fenster heraus über meinem Haupte, und dann im nächsten Moment wird er die Glocke ziehen, nach meinem Mann fragen und – sich nach meinem Befinden erkundigen!!! Was habe ich verbrochen, um dieses, um solches, o und um eine unendliche Reihe ähnlicher Vernichtungen dulden zu müssen? Ich rufe Dich, Christabel! Komm! Wenn Du aber nicht kommen kannst, so
let my memory still be thy pride
and forget not, I smiled as I died!
Bis in das Grab, das mir das Schicksal, Pechle und mein Mann graben
Deine Lucy.
P. S. Stuttgart soll eine große Ähnlichkeit mit Florenz haben.
Deine Lucy.«
Der Brief ging ab mit einem dreifach unterstrichenen Eilig darauf. Da aber die Postbehörde seinen Inhalt nicht kannte, beförderte sie ihn leider nur auf dem gewöhnlichen Wege mit dem von Stuttgart abgehenden Haufen anderer schriftlicher Mitteilungen der Menschen in ihrem Verkehr auf Erden nach München.
Das siebente Kapitel.
Bei München, vor dem Sendlinger Tor, dehnt sich die Theresienwiese. Am Rande der Theresienwiese liegt die bayerische Ruhmeshalle. Vor der bayerischen Ruhmeshalle steht die Bavaria, und neben der Bavaria sitzt ein Löwe. Gegen ein Trinkgeld von zwölf Kreuzern kann man sowohl die berühmten bayerischen Menschen in der Halle hinter dem Gitter in der Nähe betrachten, wie auch die Aussicht auf die Ferne vom Kopfe der Bavaria aus genießen. Nämlich die letztere ist hohl; hohl von den Füßen bis zu dem Kopfe, und von dem Kopfe aus genießt man in der Tat eine sehr schöne Aussicht, nicht nur über die Theresienwiese, sondern auch über einen großen Teil der Stadt München und auf das ferne Hochgebirge, auf den Untersberg und den Watzmann, das Kaisergebirge und das Karwendelgebirge bis zur Zugspitze hin. Es ist sehr schön.
Sechs Personen haben in dem Kopfe der Bavaria Platz, und niemand, der nach München kommt und es irgend möglich machen kann, verabsäume es, in denselben hinaufzuklettern. Wir, der Geschichtsschreiber, haben in der Hinsicht Außerordentliches geleistet; wir sind, nachdem uns unsere diesmalige ernste Aufgabe auf die Schultern gefallen war, eigens nach München gereist, um in der hohen Frau hinaufzusteigen, und uns persönlich durch den Augenschein zu überzeugen, dass das in dem Folgenden getreu Berichtete wirklich in ihrem Haupte und Leibe habe vorgehen können. Wenn wir ein Bayer wären, sei es auch nur aus Schwaben oder aus Franken, so würde uns unbedingt ein Platz in der Ruhmeshalle hinter dem Rücken des Löwen und seiner Herrin gebühren, so aber begnügen wir uns bescheidentlich mit der Aussicht auf eine Büste in der Walhalla bei Regensburg, und lassen uns gern ob unserer Bescheidenheit loben.
Sechs Personen haben in dem Kopfe der Bavaria Platz, das verhält sich wirklich so. Wir haben das Lokal ausgemessen und die feste Überzeugung gewonnen, dass also auch für unsere hohe Heldin, Miss Christabel Eddish Raum darin war.
Miss Christabel Eddish saß an dem wolkenlosen sonnigen Maientage, in der großen Stunde, die wir jetzt zu schildern haben, wirklich darin – allein; allein in dem Haupte der Bavaria, dasselbige wie ein schöner, tiefinniger, reiner Mädchengedanke vollständig ausfüllend. Und jetzt ist auch der Moment gekommen, wo wir uns zum ersten Mal ein wenig eingehender mit ihr – Miss Christabel – beschäftigen können; völlig gerecht werden wir ihr freilich kaum am Schlusse dieses Buches geworden sein.
Miss Christabel Eddish war eine hoch gewachsene, hübsche Blondine, die körperlich den leeren Raum im Haupte der Bavaria durchaus nicht ausfüllte. Im Gegenteil, sie war ein wenig hager, jedoch sicherlich nicht zu hager. Wenn wir sie schlank nennen, werden wir nicht ganz, aber doch sehr annähernd das Rechte treffen; nennen wir sie also schlank. Ihre Gesichtsfarbe erschien ein wenig matt, doch keineswegs ungesund; die über die etwas energischen Züge ausgestreuten Sommersprossen verunzierten die Dame durchaus nicht. Blaugrüne Augen können auch schön sein und sind häufig recht interessant, vorzüglich wenn man zu denselbigen ein grünes Kleid und einen gelben Strohhut mit hellblauem Bande und einer silbernen Biene als Heftel trägt. Ein Sonnenschirm von Naturseide gehört freilich unbedingt zur Vervollständigung des Kostüms und der Erscheinung.
Miss Christabels Alter belief sich auf dreißig wohlgezählte Jahre, offiziell war sie jedoch, sozusagen, durch ein sonderbares, höchst seltenes naturhistorisches Ereignis auf dem fünfundzwanzigsten stehen geblieben und hielt sich darauf. Wie die Dame diesmal in den Kopf der Bavaria auf der Theresienwiese bei München hinaufgestiegen war, so war sie jederzeit fähig, in Kalifornien in den höchsten Wipfel der höchsten Wellingtonia gigantea, so war sie in jedem Augenblicke bereit, auf die Spitze der höchsten Pyramide bei Ghizeh hinaufzusteigen, und der sollte noch geboren werden, der imstande war, sie wider ihren Willen wieder herunterzuholen. Sie pflegte ihre Briefe mit einer Gemme zu siegeln, auf welche eine nicht blühende Aloe als Sinnbild eingeschnitten war, und das Symbolum verdankte seine Entstehung ihrer eigenen Erfindung. Dass sie – Miss Christabel – noch blühen musste, unterlag keinem Zweifel; allein welcher Blumist kann einer Aloe gegenüber genau bestimmen, wann es ihr gefällig sein werde, das holde Wunder eintreten zu lassen? –
Von der Aussicht auf die fernen blauen Alpen mit den silbern blitzenden Zacken wandte sich Christabel und griff in die Tasche ihres grünen Reisekleides. Da war das rosafarbige duftende Blättchen, welches die königliche württembergische Post am Ende des vorigen Kapitels nach München beförderte! Da war es, am rechten Ort und in den rechten Händen, und – den »Klemmer« auf den Nasenbug fester aufdrückend und zurechtrückend – entfaltete Miss Christabel Eddish den schriftlichen Hilfeschrei der verzweifelnden Unglücklichen in Stuttgart und überflog,