Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Raabe
Издательство: Bookwire
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783962816056
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je­nem Schnei­der­meis­ter un­ter­le­gen, so über­mannt mich heu­te Pechle!!

      O, Chri­sta­bel, komm und sie­he selbst, wie es ge­schieht, dass Dei­ne stol­ze, tap­fe­re Lucy Dir einen sol­chen Brief schrei­ben muss. Das Ent­setz­li­che, der Ent­setz­li­che wohnt mit mir in ein und dem­sel­ben Hau­se – wohnt über mir – und in dem Au­gen­blick, in wel­chem ich die­se zit­tern­den Zei­len auf die­ses trä­nen­be­feuch­te­te Blatt wer­fe, höre ich sei­nen Schritt, sein La­chen – o sein ge­mei­nes, ge­mei­nes La­chen über mei­nem Haup­te, und die Angst, der Zorn, der ohn­mäch­ti­ge Zorn schüt­telt mich: Chri­sta­bel, jetzt singt er, er singt, wenn man das Sin­gen nen­nen kann – noch einen Au­gen­blick, und ein wi­der­wär­tig sum­men­der Ton wird mei­ne Ner­ven zer­rei­ßen, – der Pö­bel­haf­te spielt auch die Maul­trom­mel, spielt sie bei of­fe­nem Fens­ter aus dem Fens­ter her­aus über mei­nem Haup­te, und dann im nächs­ten Mo­ment wird er die Glo­cke zie­hen, nach mei­nem Mann fra­gen und – sich nach mei­nem Be­fin­den er­kun­di­gen!!! Was habe ich ver­bro­chen, um die­ses, um sol­ches, o und um eine un­end­li­che Rei­he ähn­li­cher Ver­nich­tun­gen dul­den zu müs­sen? Ich rufe Dich, Chri­sta­bel! Komm! Wenn Du aber nicht kom­men kannst, so

      let my me­mo­ry still be thy pri­de

       and for­get not, I smi­led as I died!

      Bis in das Grab, das mir das Schick­sal, Pechle und mein Mann gra­ben

      Dei­ne Lucy.

      P. S. Stutt­gart soll eine große Ähn­lich­keit mit Flo­renz ha­ben.

      Dei­ne Lucy.«

      Der Brief ging ab mit ei­nem drei­fach un­ter­stri­che­nen Ei­lig dar­auf. Da aber die Post­be­hör­de sei­nen In­halt nicht kann­te, be­för­der­te sie ihn lei­der nur auf dem ge­wöhn­li­chen Wege mit dem von Stutt­gart ab­ge­hen­den Hau­fen an­de­rer schrift­li­cher Mit­tei­lun­gen der Men­schen in ih­rem Ver­kehr auf Er­den nach Mün­chen.

      Bei Mün­chen, vor dem Send­lin­ger Tor, dehnt sich die The­re­si­en­wie­se. Am Ran­de der The­re­si­en­wie­se liegt die baye­ri­sche Ruh­mes­hal­le. Vor der baye­ri­schen Ruh­mes­hal­le steht die Ba­va­ria, und ne­ben der Ba­va­ria sitzt ein Löwe. Ge­gen ein Trink­geld von zwölf Kreu­zern kann man so­wohl die be­rühm­ten baye­ri­schen Men­schen in der Hal­le hin­ter dem Git­ter in der Nähe be­trach­ten, wie auch die Aus­sicht auf die Fer­ne vom Kop­fe der Ba­va­ria aus ge­nie­ßen. Näm­lich die letz­te­re ist hohl; hohl von den Fü­ßen bis zu dem Kop­fe, und von dem Kop­fe aus ge­nießt man in der Tat eine sehr schö­ne Aus­sicht, nicht nur über die The­re­si­en­wie­se, son­dern auch über einen großen Teil der Stadt Mün­chen und auf das fer­ne Hoch­ge­bir­ge, auf den Un­ters­berg und den Watz­mann, das Kai­ser­ge­bir­ge und das Kar­wen­del­ge­bir­ge bis zur Zug­spit­ze hin. Es ist sehr schön.

      Sechs Per­so­nen ha­ben in dem Kop­fe der Ba­va­ria Platz, und nie­mand, der nach Mün­chen kommt und es ir­gend mög­lich ma­chen kann, ver­ab­säu­me es, in den­sel­ben hin­auf­zu­klet­tern. Wir, der Ge­schichts­schrei­ber, ha­ben in der Hin­sicht Au­ßer­or­dent­li­ches ge­leis­tet; wir sind, nach­dem uns un­se­re dies­ma­li­ge erns­te Auf­ga­be auf die Schul­tern ge­fal­len war, ei­gens nach Mün­chen ge­reist, um in der ho­hen Frau hin­auf­zu­stei­gen, und uns per­sön­lich durch den Au­gen­schein zu über­zeu­gen, dass das in dem Fol­gen­den ge­treu Be­rich­te­te wirk­lich in ih­rem Haup­te und Lei­be habe vor­ge­hen kön­nen. Wenn wir ein Bayer wä­ren, sei es auch nur aus Schwa­ben oder aus Fran­ken, so wür­de uns un­be­dingt ein Platz in der Ruh­mes­hal­le hin­ter dem Rücken des Lö­wen und sei­ner Her­rin ge­büh­ren, so aber be­gnü­gen wir uns be­schei­dent­lich mit der Aus­sicht auf eine Büs­te in der Wal­hal­la bei Re­gens­burg, und las­sen uns gern ob un­se­rer Be­schei­den­heit lo­ben.

      Sechs Per­so­nen ha­ben in dem Kop­fe der Ba­va­ria Platz, das ver­hält sich wirk­lich so. Wir ha­ben das Lo­kal aus­ge­mes­sen und die fes­te Über­zeu­gung ge­won­nen, dass also auch für un­se­re hohe Hel­din, Miss Chri­sta­bel Ed­dish Raum dar­in war.

      Miss Chri­sta­bel Ed­dish saß an dem wol­ken­lo­sen son­ni­gen Mai­en­ta­ge, in der großen Stun­de, die wir jetzt zu schil­dern ha­ben, wirk­lich dar­in – al­lein; al­lein in dem Haup­te der Ba­va­ria, das­sel­bi­ge wie ein schö­ner, tie­fin­ni­ger, rei­ner Mäd­chen­ge­dan­ke voll­stän­dig aus­fül­lend. Und jetzt ist auch der Mo­ment ge­kom­men, wo wir uns zum ers­ten Mal ein we­nig ein­ge­hen­der mit ihr – Miss Chri­sta­bel – be­schäf­ti­gen kön­nen; völ­lig ge­recht wer­den wir ihr frei­lich kaum am Schlus­se die­ses Bu­ches ge­wor­den sein.

      Miss Chri­sta­bel Ed­dish war eine hoch ge­wach­se­ne, hüb­sche Blon­di­ne, die kör­per­lich den lee­ren Raum im Haup­te der Ba­va­ria durch­aus nicht aus­füll­te. Im Ge­gen­teil, sie war ein we­nig ha­ger, je­doch si­cher­lich nicht zu ha­ger. Wenn wir sie schlank nen­nen, wer­den wir nicht ganz, aber doch sehr an­nä­hernd das Rech­te tref­fen; nen­nen wir sie also schlank. Ihre Ge­sichts­far­be er­schi­en ein we­nig matt, doch kei­nes­wegs un­ge­sund; die über die et­was ener­gi­schen Züge aus­ge­streu­ten Som­mer­spros­sen ver­un­zier­ten die Dame durch­aus nicht. Blau­grü­ne Au­gen kön­nen auch schön sein und sind häu­fig recht in­ter­essant, vor­züg­lich wenn man zu den­sel­bi­gen ein grü­nes Kleid und einen gel­ben Stroh­hut mit hell­blau­em Ban­de und ei­ner sil­ber­nen Bie­ne als Hef­tel trägt. Ein Son­nen­schirm von Na­tursei­de ge­hört frei­lich un­be­dingt zur Ver­voll­stän­di­gung des Ko­stüms und der Er­schei­nung.

      Miss Chri­sta­bels Al­ter be­lief sich auf drei­ßig wohl­ge­zähl­te Jah­re, of­fi­zi­ell war sie je­doch, so­zu­sa­gen, durch ein son­der­ba­res, höchst sel­te­nes na­tur­his­to­ri­sches Er­eig­nis auf dem fünf­und­zwan­zigs­ten ste­hen ge­blie­ben und hielt sich dar­auf. Wie die Dame dies­mal in den Kopf der Ba­va­ria auf der The­re­si­en­wie­se bei Mün­chen hin­auf­ge­stie­gen war, so war sie je­der­zeit fä­hig, in Ka­li­for­ni­en in den höchs­ten Wip­fel der höchs­ten Wel­ling­to­nia gi­gan­tea, so war sie in je­dem Au­gen­bli­cke be­reit, auf die Spit­ze der höchs­ten Py­ra­mi­de bei Ghi­zeh hin­auf­zu­stei­gen, und der soll­te noch ge­bo­ren wer­den, der im­stan­de war, sie wi­der ih­ren Wil­len wie­der her­un­ter­zu­ho­len. Sie pfleg­te ihre Brie­fe mit ei­ner Gem­me zu sie­geln, auf wel­che eine nicht blü­hen­de Aloe als Sinn­bild ein­ge­schnit­ten war, und das Sym­bo­lum ver­dank­te sei­ne Ent­ste­hung ih­rer ei­ge­nen Er­fin­dung. Dass sie – Miss Chri­sta­bel – noch blü­hen muss­te, un­ter­lag kei­nem Zwei­fel; al­lein wel­cher Blu­mist kann ei­ner Aloe ge­gen­über ge­nau be­stim­men, wann es ihr ge­fäl­lig sein wer­de, das hol­de Wun­der ein­tre­ten zu las­sen? –

      Von der Aus­sicht auf die fer­nen blau­en Al­pen mit den sil­bern blit­zen­den Za­cken wand­te sich Chri­sta­bel und griff in die Ta­sche ih­res grü­nen Rei­se­klei­des. Da war das ro­sa­far­bi­ge duf­ten­de Blätt­chen, wel­ches die kö­nig­li­che würt­tem­ber­gi­sche Post am Ende des vo­ri­gen Ka­pi­tels nach Mün­chen be­för­der­te! Da war es, am rech­ten Ort und in den rech­ten Hän­den, und – den »Klem­mer« auf den Na­sen­bug fes­ter auf­drückend und zu­recht­rückend – ent­fal­te­te Miss Chri­sta­bel Ed­dish den schrift­li­chen Hil­fe­schrei der ver­zwei­feln­den Un­glück­li­chen in Stutt­gart und über­flog,