Wenn die Frau Baronin jemanden, der sich ihr vorstellen ließ oder sich selber ihr vorstellte, lange ansah, so war es kaum nötig, dass er sich in ein gutes oder sogar sehr gutes Licht zu stellen suchte; die gnädige Frau fand schon allein heraus, was er für sie bedeute, und er kam selten auf die Kosten seines Eigenlobes. Und welch ein Schleier war in diesem besonderen Falle sofort von den Augen der Gnädigen abgefallen! Lucie von Rippgen hatte bereits seit fünf Minuten den Doktor Pechlin seinem ganzen Werte nach erkannt, wusste ganz genau, wie sie sich von jetzt an ihm gegenüber zu verhalten habe, und hatte im Innersten ihrer Seele ihre Maßregeln bereits genommen. Wenn sie sich diesmal, was die letzteren anbetraf, ein wenig verrechnete, so lag die Schuld wahrlich nicht auf ihrer Seite. Die Bedeutung und der Wert des Platonübersetzers lagen zwar auf der Hand; jedoch die Art und Weise, wie er als Herr Christoph Pechlin behandelt werden musste, war doch nicht so leicht herauszufinden. Dass dem Monstrum beizukommen war, stand fest; lassen wir also der gnädigen Frau die feste Überzeugung, dass sie ihm beikommen werde, unerschüttert. Die Menschen leben eben deshalb in Haufen auf der Erde, um einander Gelegenheit zu geben, ihren Scharfsinn aneinander zu erproben, ihr Mütchen aneinander zu kühlen und sich das Leben so angenehm als möglich zu machen.
Fürs erste betrug sich Lucie außergewöhnlich impertinent.
Fürs zweite log der Ex-Stiftler, wie er glaubte, mit ausnehmendem Geschick, und – drittens – verfehlte beides ganz und gar seinen gewünschten Zweck, – ganz und gar dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge auf dieser Erden zuwider.
Die gnädige Frau glaubte nicht, dass Pechle in der vergangenen Nacht durch ein schrilles Hilferufen Katharinens erweckt worden und für sein eilig gutmütiges Zuhilfeeilen durch ein Erkennen des Freundes in dem unbekannten, so plötzlich erkrankten Hausgenossen belohnt worden sei. Die gnädige Frau glaubte nicht an dieses plötzliche Unwohlsein ihres Mannes und noch viel weniger daran, dass nur der Jugendfreund durch sein schleuniges Ein- und Beispringen den Gatten gerettet habe. Sie konnte sich auf ihre Nase verlassen und blickte zugleich auf die leere und die halbvolle Weinflasche neben dem Sessel des Doktors, doch leider imponierte dieser Blick dem freundlichen Menschen gegenüber gar nicht.
Was ein beleidigtes Weib an Verachtung in ein Achselzucken zusammenfassen kann, das raffte Lucia von Rippgen zusammen und zeigte es Herrn Christoph Pechle aus Waldenbuch. Der Doktor Pechlin aber übersah die Gebärde vollkommen und wurde nur um einige Schattenstufen liebenswürdiger und zutunlicher; in seiner Widerlichkeit furchtbar, sah er sogar nach seiner Uhr und freute sich, die herrlichen Genüsse freundschaftlichen Seelenaustausches noch eine Weile ausnutzen zu dürfen. Und als darauf die Baronin sich erhob, ihm den Rücken wandte und an das Fenster trat, und er doch nicht ging, hielt sie ihn für dumm, und damit hatte Pechlin – für diesmal wenigstens – den Sieg gewonnen und beherrschte die Situation.
Der Held auf dem Sofa stand Höllenqualen geistiger und körperlicher Angst aus. Seine Fantasie zerarbeitete sich, nicht ohne Grund, in der Ausmalung dessen, was geschehen werde, wenn der Freund nach gemachter Bekanntschaft von seiner Hausgenossin Abschied genommen haben und in heiterer Sicherheit oben auf seiner Stube sitzen werde. Ach, der Baron wusste, dass er selber nicht in Sicherheit auf seinem Marterkissen liege! Verstohlen hielt er unter der überhängenden Tischdecke den schändlichen Verführer an einem Schoße seines schwarzen kandidätlichen Frackes, und Pechle verstand den krampfhaften Griff ganz gut, hatte Erbarmen mit dem wehrlos Daniederliegenden und ging noch nicht.
Nein, er ging noch nicht. Er wurde liebenswürdiger und liebenswürdiger, und die gnädige Frau gewann von Minute zu Minute mehr die Überzeugung, dass sie ihm ohne die geringsten Gewissensbisse den Hals umdrehen könne. Sie kam vom Fenster zurück und setzte sich von neuem. Sie rauschte von neuem empor und wollte mehr als einmal alles aufgeben und hinausrauschen; aber der uralte unheimliche Kitzel, zu sehen, wie weit ein Mensch seine Unverschämtheit treiben könne, hielt sie dann doch wieder zurück. Sie blieb und wurde, als Pechle auch blieb, gespensterhaft ruhig; aber der Studiosus der Theologie Christoph Pechlin war nicht umsonst aus dem Tübinger Stift ausgebrochen, – er blieb, er hatte sich längst vorgenommen, jeglicher Gespenster-, Geister-, und Geist-Erscheinung gegenüber – zu bleiben. Geradeso wie er sich vorgenommen hatte, nach dem Plato den Aristophanes zu übersetzen. –
Pechle trieb seine Unverschämtheit sehr weit, während die Baronin sich immer tiefer in den Charakter und die Lebensführung der berüchtigsten Giftmischerinnen hineinfand und in ihrem stillsten Herzen der Frau Lucretia Borgia ein makelloses Leumundszeugnis ausstellte. In ganz gehaltenem, elegisch-zärtlichem Tone sprach er von jenem schönen unschuldigen Tage, an welchem ihm der Freund zum ersten Mal begegnete, und selbstverständlich benutzte er die Gelegenheit, seinen Schwur, dem Freunde bis in den Tod Freund zu bleiben, nun auch vor der Gattin des Freundes zu wiederholen.
Er zitierte eine ganze Reihe wohl oder übel auf das Verhältnis passender Verse aus eigenen und aus fremden Poesien, und dann kam er auf den heutigen Tag.
Ruhig, ruhig – ruhig hörte ihn die Baronin an. Sie verzog jetzt keine Miene mehr.
Das nach dem gestrigen wunderholden Tage! Das nach dem Sonnenuntergang und dem nächtlichen Seelenaustausch in Heidelberg! Das nach den Tränen des Wiedersehens und des Abschiedes! Das nach dem gestrigen Zusammensein mit Miss Christabel Eddish! –
Nicht eine Miene verzog Lucia von Rippgen; der Exstiftler Christoph Pechle hatte keine Ahnung davon, was sich unter der weißen olympischen Stirn bewegte, was daselbst durcheinanderwogte, und wie der hilferufende Schrei, gleich einer aufgescheuchten, erschreckten Möve über den wirbelnden Wassern im Kreis umherfuhr.
»Christabel! Christabel! o Christabel!« Ja, Lucia schrie im Innersten ihres Daseins! Sie schrie nach Luft – nach Rache – nach Miss Christabel Eddish, und Pechle wurde immer gemütlicher, immer noch gemütlicher! Noch kannte er Miss Christabel nicht, er konnte also auch nicht wissen, wen die gnädige Frau sich zur Hilfe herbeirief.
Ruhig, ruhig, ruhig sah Lucia den Freund ihres Mannes an; aber von Zeit zu Zeit glitt ein Blick der Gattin auf den Gatten – auch ein ruhiger Blick, und doch entsetzlich in seinem klaren, kühlen Glanze.
Ferdinand erwiderte ihn nicht zum zweiten Mal. Dass sein Haupt auf dem Blocke lag, wusste er