Hier wagte es der Baron, seiner Angst zum Trotz, leise zu stöhnen; doch Pechlin fuhr rasch weiter fort:
»O, leugne es nicht, Bester! denkst du wohl noch dran, wie ich dir, nur infolge meiner hohen diplomatischen Begabung, ein mit einem rosaseidenen Bändchen umwundenes Briefpaket wieder verschaffte! Erinnerst du dich wirklich nicht mehr daran, wie Fräulein Hersilie Schnäpple in den Neckar gehen wollte? Besinne dich nur; es wird dir schon einfallen, wenn du dich nur recht besinnst.«
»Wie verhält sich das, mein Herr?« ächzte an dieser Stelle die Baronin, ihren festesten Vorsätzen zum Trotze.
»Wie ich sage. Aber beruhigen Sie sich, gnädige Frau; es ist kein Grund zu einem Sensationsartikel vorhanden. Das Fräulein ging nicht in den Neckar, sondern nur in die fromm-volkstümliche Literatur. Sie schreibt unter dem Namen –«
»Ich bitte dich, so bald als möglich wieder wohl zu werden«, sprach mit der Kälte eines Eisberges die Gattin zu dem Gatten, erhob sich abermals und verließ das Gemach, ohne sich den verdorbenen oder vielmehr recht wohlgeratenen Gottesgelehrten von neuem anzusehen. Die beiden Freunde befanden sich wieder allein, und Ferdinand von Rippgen griff sich in heller Verzweiflung mit beiden Händen in die Krawatte, riss sie sich ab und zerknüllte sie, im tödlichsten Erstickungsgefühl nach Luft ringend.
Christoph Pechlin war mit der Baronin von Rippgen aufgestanden, schritt, wie vorhin die Dame, zum Fenster, sah einige Sekunden lang hinaus, kam zurück, beugte sich über das Lager des Freiherrn und sagte:
»Du, ich halte mich für ein mit dem zum Durchkommen durch diese Welt nötigen Intellekt ausgerüstetes Wesen!«
»Was soll daraus werden, und was hast du mir da angetan?«
»Ruhe, Ruhe, Alterle! Was ich dir angetan habe? Ich habe für dich und mich momentan mit deinem guten Weible gebrochen. Es war nicht anders möglich; aber verlass dich darauf, wir sind auf dem besten Wege zu einer freundschaftlich behaglichen Verständigung. Rege dich nicht unnötig auf; da ich dich einmal wiedergefunden habe, so werde ich dich nimmermehr verlassen – grüß dich Gott und – gesegnete Mahlzeit.«
Damit ging auch er, und Ferdinand – Ferdinand war allein – allein in der Erwartung, dass seine Frau demnächst wieder zu ihm zurückkehren werde.
Das sechste Kapitel.
Viele Leute werden es nicht für möglich halten; aber es war doch so! Pechle nannte den im vorigen Kapitel geschilderten ersten Zusammenstoß mit der Freifrau Lucie von Rippgen ein gelungenes Niederreißen sämtlicher zwischen zwei gleichartigen, ganz für einander geschaffenen Naturen durch den Gott Zufall aufgerichteter Schranken! – – Pechle war eigentlich zu unverschämt! – – Pechle war aber jedenfalls nicht der Mann, der etwas einmal Unternommenes, das seiner eigenen Natur zusagte, leichthin aufgab, und die Baronin merkte das bald. Sie wurde ihn nicht mehr los aus ihrem Dasein.
Christoph Pechlin aus dem Schönbuch, Pechle, der im Grunde genommen der blödeste Mensch des Erdbodens war, fühlte sich als Freund und legte den ganzen Wert seiner eigenen Natur offenkundig dar.
Acht Tage nach dem ersten Bekanntwerden mit dem unabweisbaren, liebenswürdigen Tübinger Ex-Theologen schrieb Lucie in vollständiger rat-, rand- und bandloser Auflösung an ihre Freundin Miss Christabel Eddish:
»Dearest! Dearest! Hast Du keinen Ruf vernommen? Keinen leis und fern herhallenden Angstruf in den letzten Tagen und Nächten? Gar keinen?!… Christabel, ich war es, die rief! – Denke Dich in das veilchenduftige Grauen hinein, mit welchem wir an den schönen Gestaden der Elbe jenes herrliche, aus Mondenschein und Deinem süßen Namen gewebte, leider unvollendete Gedicht eueres herrlichen Dichters Kolleritsch zusammen lasen – lass alles hinter Dir und komme zu mir!!… Komm zu mir, Christabel! Lass alles von Dir – Florenz sowohl als Rom! – denke unserer durch tausend Schwüre besiegelten Freundschaft, und komm zu mir nach Stuttgart! Als jener entsetzliche Plebejer, dessen Namen ich nie – nie niederschreiben werde, am Elbgefilde zum ersten Mal über unsere Ligusterhecke stierte – als sein Weib es wagte, ihre Visitenkarte bei uns abzugeben, warst Du an meiner Seite, und – ich lebe noch! Christabel, das leise Schluchzen, welches Du vielleicht in Deinen Nächten vernommen hast, schluchzte ich; – ich rief wieder nach Dir, Dir, o meine Taube; komm als Trösterin, Schützerin, Retterin! ein Fürchterlicheres, als alles Vorhergegangene droht Deiner armen Lucy. Sie ist verloren, wenn Du nicht zu ihr kommst, ihr zu helfen durch Rat und Tat!
Five warriors seized me yestermorn,
Me, even me, a maid forlorn –
nein, wenn auch nicht fünf Krieger, so doch ein einziger Unhold, der ein ganzes Regiment von seinesgleichen aufwiegt, hat sich Deiner unglücklichen Genossin bemächtigt. Hast du wirklich keinen Hilferuf vernommen in den letzten Nächten, Christabel??!!
Blutige Tränen fallen auf das Blatt, auf welchem ich jetzt schriftlich Dich rufe. Und indem ich Dir schreibe, versinke ich mehr und mehr in dem mich umgebenden Pfuhle der Gemeinheit. Die grässlichen Fluten schlagen über meinem dem Elend geweihten Haupte zusammen: nimm diesen letzten Wink der armen, kleinen Hand und lebe wohl, Christabel!… Lebe wohl, Christabel, ich kann nicht mehr – komm mit dem nächsten, dem allernächsten Kurierzuge.
The silver lamp burns dead and dim;
But Christabel the lamp will trim –
ja, sie wird es tun; – sie wird es nicht zugeben, dass die Teufel lachen, wird es nicht zugeben, dass die Gewöhnlichkeit recht behalte! Christabel wird die silberne Lampe, die arme sterbende Lampe des Daseins ihrer unseligen Lucy vor dem Erlöschen bewahren; sie wird ihrer Lucy auf azurnen Flügeln der Liebe und Freundschaft neues Öl – mein Gott, wie erbärmlich bewährt sich den zartesten Schwingungen unserer Seele gegenüber das geschriebene Wort! – herzutragen!… Eile, Christabel, Dein zweites Herz ist dem Stillstehen nahe! Wie aber soll ich Dir sagen, was mir geschieht, was Deine Lucia zu erdulden hat? Die Worte mangeln der Feder, der Ausdruck der Seele, und ich bin das unglücklichste