Sie stieg aus. Sie stieg die Treppe hinauf, gefolgt von Virginy und dem das Gepäck nachschleppenden Kutscher. Aus starren Augen sah sie eine Minute lang den Namen des Barons auf dem Metalltäfelchen an der Glastür im Schein der Gasflamme an. Dann zog sie eigenhändig die Glocke. Sie zog sie nicht hastig, nicht ruckartig, sondern sie zog sie wie eine Totenglocke, eine Begräbnisglocke und fuhr trotz ihrer Betäubung zusammen, als das helle Gebimmel ihrer Stimmung durchaus nicht entsprach. Wie die Marquise von Brinvilliers einem langweilig gewordenen Freunde den Giftbecher zu reichen pflegte, so reichte mit öder Gleichgültigkeit Miss Christabel dem Fuhrmann Fahrgeld und Trinkgeld, und dann kam Katharina und öffnete die Glastür.
»O yes!« sagte Miss Christabel Eddish und schritt, ohne weitere Aufklärung über ihre Persönlichkeit, ihre Wünsche und Absichten zu geben, an der erstaunten schwäbischen Jungfrau vorüber. »Ja was denn? mei Frau ischt sehr übel auf!« rief Katharina, von ihrem Erstaunen sich erholend, und mit einem Versuch, den späten Besuch und Einfall zurückzuhalten, sich an Miss Virginy wendend.
»O yes!« sagte Miss Virginy gleichfalls an der schwäbischen Maid vorüberschreitend und ihrer Herrin auf dem Fuße folgend. Katharina, jeden Versuch des Widerstandes nunmehr aufgebend und den Leuchter hoch über das Haupt erhebend, sah beiden nach und gab nur noch eine Warnung mit auf den Weg:
»Sie! da rechts geht es aber auf –« vollendete jedoch ihren Satz nicht. Miss Christabel, durch eingeborensten britischen Instinkt geleitet, wandte sich schon von selber nach links und fand, ohne danach gefragt zu haben, sofort die richtige Tür. In derselben trat ihr Charlotte mit einem anderen Leuchter in der Hand entgegen und vor Überraschung mehrere Schritte zurück.
»Ich bin es!« sprach Christabel. »Wo ist die Lady? Wie geht es ihr?«
Da setzte Charlotte das Licht auf den Tisch inmitten des Salons und deutete tragisch-wortlos auf die Tür wiederum zur Linken, also nicht auf die Tür, welche in das Gemach des Barons führte. Rasch schritt die Engländerin über den blumenbunten Teppich dem deutenden Finger nach, und hinter ihrem Rücken glitt die deutsche Kammerjungfer an die Seite der britischen, schmiegte sich mit einer unbeschreiblich ausdrucksvollen internationalen Ellenbogenbewegung an sie, zog die Augenbrauen herauf, die Nasenflügel herab und den Mund in eine wie zu einem Pfiff gespitzte Spitze, und sagte wieder nichts. Die britannische Maid verstand jedoch den Blick wie das kurze schnelle Kopfnicken ganz ausgezeichnet, schüttelte in ebenfalls stummer Antwort den Kopf und entblößte ein ungemein glänzendes Gebiss! Miss Virginy wagte es, hinter ihrer Herrin drein zu grinsen. Einen echt deutschen Frauenschrei jedoch stieß die Baronin Lucia von Rippgen aus, als ihre seelenvolle Freundin auf der Schwelle ihres Gemaches erschien und einen Augenblick wie zweifelnd stand und umhersah und umherroch.
Miss Christabel Eddish fragte nicht: »O lord, wie riecht es denn hier?« denn sie kannte den Duft und wusste ihn zu deuten. Tränen, Zorn, Verzweiflung, flüchtige Salze und wohlriechende Kraftwasser, wenn sie sich bei niedergelassenen Vorhängen und verhüllter Lampe miteinander vermischen und den Aufenthaltsort des Weibes erfüllen, werden von jedem eintretenden Weibe sofort chemisch richtig analysiert, und eine Freundin – eine Feindin natürlich auch – weiß auf der Stelle in solchem Falle, welch ein Bestandteil im Moment in der Atmosphäre vorwiegt.
Augenblicklich hatten ohnmächtige Wut, vinaigre de Bully und lait antiphlogose die Oberhand. Außerdem war es aber auch aus einfach meteorologischen Grundursachen schwül im Zimmer; denn eine schwüle, schwüle Vorsommernacht lag über der schwäbischen Metropole und hielt ihre Lebensgeister zusammen oder vielmehr nieder.
»Christabel!« rief Lucia halb sich aus den Kissen ihres Diwans emporrichtend und die ausgebreiteten Arme der Freundin entgegenstreckend. Und schon beugte die Britin sich über die unglückliche Frau und drückte ihr, während sie zu gleicher Zeit die Handschuhe abzog, einen Kuss auf die glühende Stirn und sagte:
»Siehst du, ich bin sogleich gekommen.«
»Ich wusste es«, schluchzte Lucy an ihrem Halse hängend. »Du musstest kommen! Ich habe dich deine Sachen packen sehen, ich habe dich zum Bahnhof begleitet! Mein armes Herz saß dir gegenüber im Kupee, und sieh, da liegt das Eisenbahnkursbuch – meine einzige Lektüre seit Tagen, und ich bin ruhiger und ruhiger geworden in der Überzeugung, meinen Brief hat sie bekommen – und jetzt hält der Zug in Gabelbachgereuth, und jetzt in Günzburg und nun in Leipheim, und da ist sie in Ulm, und in vier Stunden wirst du sie in den Armen halten und sie nicht wieder loslassen, bis du dich an ihrem Herzen ausgeweint, bis du dir in allem – allem Luft gemacht hast!«
»Yes!« sagte Miss Christabel Eddish, in die erste Windpause des Sturmes der Gefühle der Freundin mit der Frage sich einschiebend: »Und wo ist dein Mann, dein Gemahl, der Baron?«
»Denke dir, er ist davongegangen!« schrillte Lucie, krampfiger sich an der Schulter der hohen englischen Jungfrau festkrallend.
»Was?! Davongegangen? C’est à dire – run away? Durch – ge – gan – gen?!«
»Ja, ja und dreimal ja! Ich bin allein im Hause! Er hat es gewagt, der Elende! Er ist davongegangen mit dem grässlichen Barbaren, dem Menschen, der sich, wie ich dir schrieb, in mein Leben, meine Ruhe, mein Glück eingedrängt hat, der mit uns in diesem Hause wohnt, der sich wie ein Felsblock auf mich gewälzt hat, der allnächtlich über meinem Haupte die Maultrommel spielt, und gegen den ich machtlos, kraftlos und ohnmächtig bin! Pechle hat meinen Mann verführt! Stelle dir vor – stelle es dir recht lebhaft vor: Ferdinand macht mit ihm – diesem Pechle, gegen meinen Willen – Christabel, gegen meinen ausgesprochenen Willen, eine Tour in der Umgegend!«
»Das ist ihre Art so!« sprach Miss Christabel Eddish mit einer dumpfen Energie, die nur aus a posteriori, aus eigener Erfahrung gewonnener Überzeugung hervorbrechen konnte. Zu gleicher Zeit machte sie sanft die