Das Fläschchen mit kölnischem Wasser wurde während der Fahrt wiederholt in Gebrauch genommen; aber endlich hielt der Wagen. Die Heimat war erreicht, und der gnädige Herr stürzte – nicht die Treppe hinunter, um den Schlag zu öffnen, die zürnende Gattin herauszuheben, sie in die Arme zu schließen und sein unverantwortlich rücksichtsloses Betragen zu entschuldigen. Nur der Hausbesitzer sah im Erdgeschoss aus dem Fenster und griff grüßend an die Hausmütze; – die Kammerjungfer Charlotte konnte sich das Ding weniger denn je erklären.
Es regte sich gar nichts. Auch Herr Katzenlecker, der Hausherr, hatte sein Interesse an dem Wagen, der vor seinem Hause hielt, verloren; er zog den Kopf aus dem Fenster und sich in das Innere seiner Gemächer zurück. Die Baronin sah mit zusammengekniffenen Lippen und Augen an dem Hause empor. Einen Moment stand sie; dann stieg sie die Treppe hinauf, ohne sich nach der Begleiterin umzuschauen. Sie stieg – stieg – stieg empor, stattlich, rauschend – neueste Nummer des Bazars – fatumhaft, ernst und unerbittlich; und der eisernste Schritt des dröhnendsten Kriegs- und Schlachtenschicksals war ein Wiegenlied der Idylle gegen den scharfen Klang ihrer Stiefelchen auf den Stufen der Haustreppe.
Wehe dem Herde, dessen Gebieterin mit derartig kadendziertem Hall der zarten Sohlen heimkehrt! Der Schall allein rächt manches, was das rohe Geschlecht der Männer seit seiner Entwicklung aus dem Gorilla an den Engeln verbrach, die aus dem Himmel niederstiegen, nach den Söhnen der Erde zu sehen und zu Männern zu nehmen »welche sie wollten«. –
Der Griff des Glockenzuges blieb nicht in der Hand der vom Blütenduft der Freundschaft und der Ideale trunken heimkehrenden placens uxor, allein der Klang der Glocke war dessenungeachtet wohl vernehmlich. Die Schwabenmaid stürzte erschreckt herbei, die feuchten Hände auf dem Wege an der Schürze abtrocknend. Die schöne Herrin trat ein, blieb aber auf der Stelle stehen und fragte, einem erhöhten, einem verschärften Erstaunen anheimfallend:
»Mein Gott, welch ein Geruch?«
Ei freilich, wie roch es da? – Ein wenig seltsam ohne Zweifel! Ein wenig nach Kamillentee, ein wenig säuerlich, ein wenig süßlich, ein wenig salzig, ein wenig nach Spirituosen und gar nicht wenig nach Tabaksdampf!
»Was ist das? Was ist geschehen? Was geschieht hier? Katharina, was geht hier vor?« rief die Baronin von Rippgen, nicht einem einzigen ihrer Sinne, und sonderbarerweise ihrem Geruchssinne am wenigsten trauend. Und ohne die Antwort der suevischen Jungfrau abzuwarten, rauschte sie an ihr vorbei gegen die Tür des Salons, riss diese auf, fand auch hier denselben Geruch, nur noch ein wenig verstärkter – ging, mit jedem Schritte Augusta-hafter werdend vor und hindurch, riss die Tür des dem Gemahl angewiesenen Gemaches auf, und sah – auf der Schwelle stehend und zu Eis erstarrend – auf das, was hier vorgegangen war und was – ihr unter den Augen und der Nase – noch vorging, freilich ohne es im ersten Augenblick in seiner ganzen Scheußlichkeit zu begreifen!…
Auf dem Sofa, den Kopf durch ein einem Federbett entnommenes Kissen unterstützt, lag der Baron Ferdinand von Rippgen, wie es schien, dem Tode oder etwas noch viel Schlimmerem nahe. Langausgestreckt lag er, mit hängenden Armen, ein Bild des Jammers, des unsäglichsten Elends, und bei ihm, bequem in dem bequemsten Lehnsessel, saß ein breitschulteriger, dickköpfiger, vergnügt aussehender Herr, der eine Zigarre im Munde und eine Weinflasche neben seinem Ellenbogen auf dem Tische vor sich hatte. Der elegant mit kostbarem Teppich behängte Tisch aber wies außerdem ein Sammelsurium von allen möglichen Flaschen, Gläsern, Tassen und sonstigen Gefäßen vor. Den Kamillentee hatte sich der Freiherr bereits in den Morgenstunden selber verordnet. Kamillentee mit Kirschengeist jedoch hatte ihm dann Herr Christoph Pechlin angeraten, zubereitet und – eingezwungen. Ob er die Mischung auf seine eigene Natur oder die des dem Versinken nahen Jugendgenossen berechnet hatte, wollen wir dahingestellt sein lassen. Der Baron befand sich in einem Zustand, der des Trostes und der Hilfe durch eine Freundeshand dringend bedürftig war, und Pechlin war der Mann, eine solche Hilfe darzubringen und sie sogar durch etwas gewalttätige Überredung aufzudrängen.
Je aufgelöster Ferdinand dalag, desto aufrechter saß Christoph da. Je erbarmungswürdiger Ferdinand aussah, desto frischer, munterer und gewissermaßen hübscher blickte Christoph in die Welt hinein. Ganz stattlich sah der alte Tübinger aus und imponierte drolligerweise durch den gewähltesten schwarzen Anzug an diesem Krankenlager. Heimtückischer-, ungemein absichtsvollerweise hatte er sich äußerlich auf das möglichste bestrebt, den würdigen, ernsten hippokratischen Helfer im Leid darzustellen, und für die ersten Augenblicke erreichte er vollständig den beabsichtigten Zweck. Die Baronin Lucie von Rippgen hielt den Menschen für den im Moment der dringendsten Not von der Gasse heraufgerufenen vielbeschäftigten Arzt und rief, aus ihrer Versteinerung erwachend:
»O mein Gott, was ist – was ist mit ihm vorgefallen? Herr Doktor, was ist geschehen? Ist es denn so sehr gefährlich? Um Gotteswillen, Fer–dinand«
Das fünfte Kapitel.
Seit längeren Jahren war der Freiherr nicht in so teilnahmsvollem, ja erschreckt-zärtlichem Tone von seiner Gattin angerufen worden, als jetzt, und doch – doch hätte die bissigste, höhnischste Aufforderung zur Verantwortung, im Verlaufe seiner Ehe, nie einen solchen erschütternden Eindruck auf ihn gemacht, wie dieser, aus einem das Schlimmste befürchtenden Herzen hervorbrechende Schrei der Liebe. Wie einem auf der Folterbank Verendenden zum letzten Mal vor dem Erlöschen des Lebensfunkens ein alle erduldete Qual zusammenfassender Schauder sämtliche verrenkte Glieder durchzuckt, so durchschauerte den Baron dieser fragende Ruf: »Ferdinand?!«
Er erhob sich bei demselben halb, und sank auf der Stelle ganz zurück. Ewige Bewusstlosigkeit war unbedingt dem Gedanken an die demnächst unausbleiblich folgenden Auseinandersetzungen vorzuziehen. Ja, ja, lieber Ferdinand, hier war der Wurm, welcher nie stirbt; und drohend sah die Ewigkeit herein, und ersuchte die Baronin, sich auch auf dieser Blüte des Daseins niederzulassen, die Süßigkeit derselben aufzusaugen und – Honig daraus zu bereiten.
Der Baron war auf sein Kissen zurückgesunken, nachdem er versucht hatte, sich von demselben zu erheben; glücklicherweise aber war es dem Afterarzt und Pseudodoktor Christoph Pechlin gegeben,